Haiti: „Phase extremer Unsicherheit“

Die Ermordung des haitianischen Präsidenten Jovenel Moïse hat das Land in eine tiefe Krise gestürzt. Nicht nur die politische Stabilität in dem Karibikstaat ist in Gefahr, auch die Christen haben es schwer, wie der Theologe Michael Kisskalt berichtet.
Von Johannes Blöcher-Weil
Jovenel Moise

Was weiß man bisher zu den Umständen der Ermordung des haitianischen Präsidenten?

Vermutlich wurde der Präsident von kolumbianischen Söldnern ermordet. Die Gemengelage ist aber noch undurchsichtig. Die Schuldigen werden noch gesucht. Auch die Rolle des Präsidenten selbst in diesen Machtstrukturen ist unklar.

Was sind die drängendsten Probleme Haitis?

Das Land befindet sich in einer Phase der extremen Unsicherheit. Dazu gehören neben den politischen Spannungen auch Korruption und extreme Armut. Die Pandemie belastet das Land bisher nicht so stark, weil das Land bis auf wenige geographische Ausnahmen kaum vom Tourismus lebt.

Was bedeutet die Situation für die Menschen vor Ort?

Hier gibt es aus meiner Sicht geographische Unterschiede. Im Süden ist die Situation deutlich dramatischer als im Norden. Der Süden ist abgeschnitten von der Versorgung. Dort treiben gewalttätige Gangs ihr Unwesen. Einige christliche Gemeinden hatten dort Flüchtlinge aufgenommen, aber das ist aktuell nicht mehr möglich.

Was macht die Situation so schwierig?

Armut gab es in Haiti schon immer, aber das Land war früher sicherer. Die Gangs treiben ihr Unwesen nicht mehr nur in den Armenvierteln, sondern haben die Mittelschicht erreicht. Manche behaupten sogar, dass der Präsident Teil dieser Bewegung war. Das ist alles sehr vernebelt und verschleiert. Es sollten ja auch bald Präsidentenwahlen stattfinden.

Welche Rolle spielt die Weltpolitik für Haiti?

Haiti kommt nicht aus der eigenen Misere heraus. Es hatte sich als eines der ersten Länder von seiner Kolonialmacht Frankreich befreit. Allerdings gingen damit historisch hohe Reparationszahlungen einher. Darunter leider Haiti bis heute. Der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton hatte einmal versucht, dieses System zu durchbrechen. Aber vielleicht hatte er zu hehre Vorstellungen.

Welche Hoffnung haben Sie für das Land?

Es gibt viele fähige Leute. Aber diese konzentrieren sich hauptsächlich auf die Mikrostrukturen. Sobald es darüber hinaus geht, sehen sie das nicht mehr als Betätigungsfeld. Viele Menschen protestieren ja auch gegen die Zustände vor Ort. Allerdings reagieren die Machthaber immer nur dann, wenn es ihnen wirklich nützt.

Inwiefern engagieren sich Christen bei den Protesten?

Sie sind auch dabei. Aus dem christlichen Umfeld wurde allerdings bisher noch niemand in eine verantwortliche Position gewählt. Hier spielt vermutlich auch wieder die Schere zwischen Norden und Süden eine Rolle. Während der Norden fast ungehindert fast regulär weiterleben kann, haben es die Christen im Süden deutlich schwerer. Christen in Haiti denken evangelistisch, diakonisch und politisch. Allerdings ist das in der jetzigen Situation eine Sisyphos-Arbeit. Bei einem Besuch vor Ort haben wir die Menschen gefragt, was wir für sie tun können. Wir haben die Antwort bekommen, dass wir die ersten waren, die das gefragt hätten. Das war für mich bezeichnend.

Vielen Dank für das Gespräch.

Michael Kisskalt (geboren 1964) ist seit 2014 Rektor der Theologischen Hochschule Elstal. Aktuell hat er eine Professur für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie inne. Er ist verantwortlich für die Partnerschaft des BEFG mit der Convention Baptiste de Haiti von 2011-2017. Nach dem Theologiestudium an den Universitäten Erlangen und Tübingen war er zunächst Jugendpastor in Berlin-Charlottenburg und später Leiter der theologischen Ausbildungsarbeit der Baptistengemeinden in Kamerun und Rektor des Theologischen Seminars in Ndiki/Kamerun.

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