Mit einer Schweigeminute und einem Gedenkgottesdienst hat Haiti am Mittwoch den Opfern des Erdbebens vor einem Jahr gedacht. Nach neuesten Angaben starben über 300.000 Menschen bei der Naturkatastrophe, über eine Million lebt heute noch in Zeltlagern. Nicht nur ein zentraler Trauergottesdienst soll an das Unglück am 12. Januar 2010 erinnern. Zwei Tage lang gibt es Presseberichten zufolge unterschiedliche Gedenkveranstaltungen im ganzen Land. Auch der UN-Beauftragte für Haiti, Bill Clinton, und der Musiker Wycleff Jean sind angereist.
Ein gescheiterter Staat
Was die Berühmtheiten in Haiti und Port-au-Prince, der Hauptstadt, sehen, zeugt, so die Kritik vieler Experten, noch nicht sehr stark vom Wiederaufbau der vergangenen Monate. Clinton selbst erklärte jüngst, er sei enttäuscht vom Ausmaß, der bisher geleisteten Hilfe. Erst 60 Prozent der Milliarden zählenden Spendengelder sollen in Haiti angekommen sein. Präsident René Préval hat öffentlich mehr internationale Hilfe gefordert. Ein Grund dafür, dass viele Hilfsorganisationen ihr Geld noch zurückhalten, könnte die schwierige politische Lage in Haiti sein. Experten zufolge ist das Land von Korruption geprägt, der Versuch einer demokratischen Wahl im November führte zu Protesten und Aufständen. Wegen seiner innenpolitisch instabilen Lage gilt Haiti international als "gescheiterter Staat".
Das weiß auch der Sprecher der überkonfessionellen Hilfsorganisation "Humedica", Steffen Richter. "Haiti war schon vor dem Beben in einer politisch und wirtschaftlich schwierigen Lage", sagt er gegenüber pro. Mit dem Beben habe sich alles nur noch dramatisiert. "Es sagt schon viel über die schwierige Situation im Land aus, wenn die Not der Menschen so groß wird, dass sie jene überfallen, die eigentlich zum Helfen gekommen sind", findet er und spielt auf eine Attacke gegen seine Mitarbeiter in Haiti an. Am Dienstag war ein Team in Port-au-Prince ausgeraubt worden, nachdem es bei einer Bank Geld abgehoben hatte. Am Tor eines Gästehauses bedrohten drei Männer die Helfer mit Waffen und zwangen sie, ihnen das Geld auszuhändigen. Die Täter flohen. Zufällig gerieten sie bei der Flucht in eine Kontrolle und eröffneten das Feuer auf die Polizisten. Zwei der Räuber wurden bei dem anschließenden Schusswechsel getötet.
Kritik an Christen
"Es gibt hier keine grundsätzliche Wut gegen Ausländer", ist sich Richter dennoch sicher. Auch die Tatsache, dass "Humedica" sich als christliches Hilfswerk versteht, erschwere die Arbeit in dem von Voodoo geprägten Land nicht. "Wir verstehen uns nicht als Missionare", sagt er, "wir helfen durch die Tat. Aber wir haben die Hoffnung, dass wir unter dem Schutz Gottes stehen!" Die internationale Kritik, es komme zu wenig Hilfe in Haiti an, kann Sprecher Steffen Richter aber nicht nachvollziehen. Man brauche Geduld, sagt er. "Stellen Sie sich vor, eine Stadt wie Berlin würde zu 80 Prozent dem Erdboden gleich gemacht. Da dauert der Wiederaufbau nunmal Jahre." In einem Staat, der schon vor einer solchen Katastrophe marode gewesen sei, könne zudem nur langsam geholfen werden. Oft fehle es schon an der Infrastruktur, etwa um Hilfsgüter zu überbringen. "Wir können nicht einfach ein Schiff oder ein Flugzeug mit Gütern nach Port-au-Prince schicken. Vielleicht gibt es dann vor Ort nicht die richtigen Maschinen, die es ausladen können", erklärt er.
Politische Probleme verschleppt
Das bestätigt auch Jean Renel Amesfort. Der gebürtige Haitianer lebt seit 2009 in Deutschland und studiert evangelische Theologie. Seit der Katastrophe reist er regelmäßig in seine Heimat, um Hilfe zu leisten. "Was das Volk hier erlebt hat, ist eine humanitäre und politische Katastrophe", sagt er im Gespräch mit pro. Schon seit Jahrzehnten sei die Korruption ein Problem des Landes gewesen, derzeit habe es noch dazu eine instabile Regierung, weshalb die Helfer mit "anarchischen Verhältnissen" konfrontiert seien. Durch den wirtschaftlichen Verfall in Haiti habe sich die Korruption noch verstärkt.
Die internationale Solidarität nach dem Erdbeben habe ihn zunächst sehr bewegt. Nach und nach werde aber klar, dass viel zu wenig Hilfe ankomme, Amesfort spicht von zwanzig Prozent. "Die Ersthilfe kam an, aber der Wiederaufbau geht nicht voran", findet Amesfort. Doch die Haitianer geben nicht auf, sagt er. Wirklich helfen könne man den Menschen dort nur, indem man in ihre Unabhängigkeit investiere – also Hilfe zur Selbsthilfe leistet. Das will Amesfort auch selbst tun. Langfristig plant er, in seine Heimat zurückzugehen und die Menschen dort zu unterstützen. Im kommenden Jahr sei die große Herausforderung für die Einheimischen zunächst eine stabile Regierung an die Macht zu bringen. Der erste Schritt zur Unabhängigkeit. (pro)