Corona verwehrt uns in diesem Jahr den Zutritt zu den sonst in dieser Karwoche aufgeführten Oratorienwerke von Johann Sebastian Bach: Die Matthäus-Passion, die Johannes-Passion und dann zum Auferstehungsfest das Osteroratorium. Aber dank der digitalen Vernetzung können wir auch über die staatlich verordnete Minimal-Distanz von eineinhalb Metern hinaus ganz passabel miteinander kommunizieren.
Die Johannes-Passion (Passio secundum Johannem, BWV 245) ist neben der Matthäus-Passion (BWV 244) die einzige vollständig erhaltene authentische Passion von Bach. Sie ergänzt den Passionsbericht des Evangelisten Johannes von der Gefangennahme und Kreuzigung Jesu Christi durch Choräle und frei verfasste Texte von unbekannten Librettisten und führt ihn musikalisch in einer Besetzung für vierstimmigen Chor, Gesangssolisten und Orchester auf. Das zweistündige Werk wird heute meist als Konzert präsentiert, oft auch im außerkirchlichen Rahmen. Ursprünglich wurde das Opus jedoch im Gottesdienst vorgetragen. Am Karfreitag, dem 7. April 1724, wurde die Passion in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt.
Knapp 300 Jahre später sehen wir die unglaubliche Wirkungsgeschichte des sogenannten fünften Evangelisten. Die Oratorien und Passionen sind zeitlose Werkzeuge der Evangelisation weltweit. Sie konservieren Gottes Wort auf anmutige und herzbewegende Weise durch drei Jahrhunderte und ganz gewiss werden sie auch in der „postcoronalen Epoche“ gespielt und aufgeführt werden. Hier eine Aufführung des WDR aus dem Jahr 2018:
Ich möchte aus dem Gesamtwerk nur eine kurzes Sequenz herausgreifen, die mich seit Jahren in der Vorbereitung auf den dunkelsten Tag der Menschheitsgeschichte beschäftigt: Simon Petrus verleugnet den HERRN. Hier in der Version von der zweiten erweiterten Fassung der Johannes-Passion von 1725:
Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel,
Wirf, Himmel, deinen Strahl auf mich!
Wie freventlich, wie sündlich, wie vermessen
Hab ich, o Jesu, dein vergessen!
Ja, nähm ich gleich der Morgenröte Flügel,
So holte mich mein strenger Richter wieder;
Ach! Fallt vor ihm in bittern Tränen nieder.
Mit dieser Tenor-Arie hat uns Bach die ganze innere Zerrissenheit des Simon Petrus, des „Maulhelden“ im Kreis der Assistenten Jesu, in einer turbulenten und dramatischen Komposition „in die Ohren gemalt“. Gestern noch pausbäckige Treueschwüre – heute der feige Verrat:
Petrus spricht zu ihm: „Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen.“ Jesus antwortete ihm: „Du willst dein Leben für mich lassen? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Der Hahn wird nicht krähen, bis du mich dreimal verleugnet hast.“
Bach hat das Auf und Ab im Leben des Petrus mit hoch angestimmten und tief abstürzenden Koloraturen musikalisch abgebildet. Die kräftige Instrumentierung und das auffallend zügige Tempo führen stürmisch rauf und runter und treiben den Maulhelden vor sich her, lassen ihn in tiefe Trauer und bittere Zweifel stürzen. Er fühlt sich von Erdbeben und Felsstürzen zerschlagen, um sich danach wieder einsichtig und reumütig, seiner vermessenen Hybris bewusst, wieder aufzurichten. „Wie sündlich, wie freventlich, wie vermessen, hab ich, o Jesu, dein vergessen?“
Helmut Jost, der begnadete Texter und Komponist, Sänger, Hornist, Pianist und Bassist, hat 1989 mit dem Titel „Ich seh Petrus in mir!“ (CD „Schwarz oder weiß“, Gerth Medien) für mich unvergessen den alten Petrus ins Heute transferiert und die Petrus-Gesinnung in mir aufgedeckt. Und so gehe ich auf den Karfreitag zu, bangend und fragend: „Hab ich, o Jesu, dein vergessen?“