Gutachten führt zu ersten personellen Konsequenzen

Der Kölner Erzbischof Woelki hat am Donnerstag ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in seinem Erzbistum entgegengenommen. Das sorgte bereits für erste personelle Konsequenzen. Einige Stimmen forderten auch Woelkis Rücktritt.
Von Johannes Blöcher-Weil
Rainer Maria Kardinal Woelki, Erzbischof Köln

Die Kanzlei des Kölner Strafrechtlers Björn Gercke hat für das Erzbistum Köln untersucht, ob es im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und Schutzbefohlener in der Bistumsspitze zu Fehlern gekommen ist. Das Gutachten belastet mehrere Bischöfe schwer. Die Gutachter konnten jedoch keine Pflichtverletzungen von Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki feststellen.

Das rund 800 Seiten starke Dokument hat der Strafrechtler am Donnerstag dem Erzbischof und dem Kölner Betroffenenrat überreicht. Es umfasst die Jahre 1975 bis 2018, manche Missbrauchsfälle reichen bis in die frühe Nachkriegszeit zurück. Das Gutachten stützt sich vor allem auf Akten, Protokolle und Befragungen. Die Gutachter hatten Einsicht in 236 sogenannte Interventionsakten, die erst angelegt wurden, nachdem die Interventionsstelle des Erzbistum im Jahr 2015 ihre Arbeit aufnahm. Darüber hinaus basiert das Gutachten auf fallbezogenen Personalakten, Sitzungsprotokollen und den Unterlagen der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl aus München. Die hatte das Erzbistum zuerst mit einem Gutachten beauftragt worden, das Ergebnis aber nicht öffentlich gemacht, weil es qualitative Mängel darin sah.

202 Beschuldigte und 314 Betroffene

Die Kanzlei Gercke fand in 24 Vorgängen Pflichtverletzungen. Insgesamt 75 Pflichtverstöße zählten sie, die auf acht Personen zurückzuführen sind. Sie reichen von Verstößen gegen die Aufklärungspflicht bis hin zu Versäumnissen bei der Opferfürsorge. Woelkis Amtsvorgänger Meisner werden 24 Pflichtverstöße und damit ein Drittel aller Fälle angelastet.

Missbrauchsfälle selbst waren nicht der Kern der Untersuchung, wurden aber trotzdem thematisiert. Demnach finden sich in den Akten Hinweise auf 202 Beschuldigte und 314 Betroffene von sexuellem Missbrauch. Unter den Beschuldigten sind 127 Kleriker, die Opfer mehrheitlich Jungen unter 14 Jahren. Ein Viertel der Taten fand im privaten Bereich statt, die mit Abstand meisten Betroffenen befanden sich aber in einem Betreuungsverhältnis zu den Tätern.

Zudem wurden zehn noch lebende Personen befragt, darunter Erzbischof Woelki und der Hamburger Erzbischof Stefan Heße zu seiner Zeit als Kölner Generalvikar und Leiter der Hauptabteilung Seelsorge/Personal. Nicht befragt wurden Betroffene und Beschuldigte. Die Arbeit der Gutachter wurde dadurch erschwert, dass es im Untersuchungszeitraum mindestens zwei Aktenvernichtungen gegeben hat, die dem kanonischen Recht entsprechen. Außerdem waren viele Akten unvollständig, bemängelte Gercke.

Woelki soll seine Pflichten nicht verletzt haben

Pflichtverstöße stellten die Gutachter bei den ehemaligen Erzbischöfen Joseph Höffner und Joachim Meisner, dem ehemaligen Generalvikar Norbert Feldhoff, dem ehemaligen Generalvikar und heutigen Weihbischof Dominik Schwaderlapp, dem ehemaligen Generalvikar, Diözesanadministrator und Leiter der Hauptabteilung Seelsorge/Personal, Stefan Heße, und dem Offizial Günter Assenmacher fest.

Der derzeitige Kölner Erzbischof Woelki soll seine Pflichten im Umgang mit Missbrauchsfällen in keinem Fall verletzt haben. 229 der 314 Verdachtsfälle wurden erst nach dem 1. Januar 2010 bekannt, nachdem in Deutschland der Missbrauchsskandal am Berliner Canisiuskolleg offengelegt wurde.

Woelki reagierte bereits kurz darauf und suspendierte Weihbischof Schwaderlapp und den Kölner Offizial Günter Assenmacher, der ebenfalls durch das Gutachten belastet wird. Mit Heße, der 2015 Hamburger Erzbischof wurde, zog auch ein ranghoher katholischer Geistlicher Konsequenzen aus dem Umgang mit Missbrauchsfällen und kündigte seinen Amtsverzicht an. „Ich habe mich nie an Vertuschung beteiligt“, sagte Heße am Donnerstagabend in Hamburg. Dennoch sei er bereit, seinen Anteil am Versagen des Systems zu tragen. Heße ist der erste katholische Bischof, der wegen des Umgangs mit Missbrauch seinen Rücktritt anbietet.

„Jahrelange systembedingte Vertuschung“

Gercke und seine Juristen-Kollegin Kerstin Stirner betonten, dass sie keine „systematische Vertuschung“ durch Verantwortungsträger des Erzbistums feststellen können. Doch habe es jahrelang eine systembedingte Vertuschung gegeben. Sie sei gekennzeichnet durch eine massive Rechtsunkenntnis, unklare Zuständigkeiten, die mangelhafte Aktenführung und Dokumentation sowie Überforderung.

„Dank der Arbeit der Anwälte haben wir einen Blick in den Abgrund von Gewalt und Missbrauch im Erzbistum Köln werfen können“, sagte Matthias Katsch von der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ dem Evangelischen Pressedienst. Kardinal Woelki sei Teil dieses Systems gewesen, das mindestens seit der Amtsübernahme durch Kardinal Joachim Meisner dort gewachsen sei. Der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, nannte das Ausmaß des Missbrauchs und der Pflichtverletzungen kirchlicher Verantwortungsträger im Erzbistum Köln erschreckend. Er mahnte eine unabhängige Aufarbeitung an.

Justizministerin: „Aufklärung steht noch am Anfang“

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte, die bisherigen Schritte könnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Aufarbeitung in Köln und andernorts immer noch am Anfang stehe. Kindesmissbrauch sei „keine interne Kirchen-Angelegenheit, sondern ein Verbrechen, das von Strafgerichten aufgeklärt werden muss“, betonte die Justizministerin.

Sie forderte im Laufe des Donnerstags weiterreichende Konsequenzen. „Alle, die in der katholischen Kirche Verantwortung tragen, müssen endlich Strukturen ändern, hinschauen und eingreifen“, erklärte die SPD-Politikerin in Berlin. „Es sind dringend vertrauenswürdige Stellen erforderlich, die jeden Hinweis ernst nehmen.“ Die katholische Kirche müsse endlich alles dafür tun, dass sich entsetzliche Verbrechen gegen Kinder nicht wiederholen. Auf die nun beschlossenen ersten personellen Konsequenzen hätten viele Opfer viel zu lange gewartet, kritisierte Lambrecht.

Woelki hat unterdessen die Berufung einer unabhängigen Kommission zur weiteren Aufklärung der Fälle sexualisierter Gewalt in seinem Erzbistum angekündigt. Hierüber sei man im Gespräch mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, und der nordrhein-westfälischen Landesregierung, sagte Woelki am Donnerstag in den „Tagesthemen“ der ARD. Ziel sei es, zusammen mit der Landesregierung und den anderen Diözesen in Nordrhein-Westfalen diese unabhängige Kommission zu errichten. Die Bewegung „Wir sind Kirche“ forderte den Kölner Erzbischof auf, auch selbst Konsequenzen zu ziehen und seinen Rücktritt anzubieten.

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