PRO: Wie erging es Ihnen, als Sie die Dokumentation „Ich weiß nicht mal, wie er starb“ drehten?
Arnd Henze: Es war berührend zu sehen, wie traumatisiert alle noch Monate nach der Katastrophe waren. Fast alle haben in unseren Interviews zum ersten Mal über die bitteren Wochen erzählen können. Da fehlte es offensichtlich vorher an Angeboten. Die emotionale Wucht dieser Dokumentation ergibt sich daraus, dass wir eben nicht nur die Fakten abgefragt haben, sondern dass sich die Menschen öffnen konnten. Die Erfahrungen derer, die außen vor den Mauern des Heimes standen und ihre Angehörigen nicht besuchen konnten, und die der Pflegekräfte, die oft selbst infiziert waren und bis ans Äußerste ihrer Kräfte gingen, passten aber oft nicht zusammen. Dieses Personal hat die Menschen im Sterben begleitet, ohne dass die Angehörigen in der Nähe sein konnten. Das mussten wir abends nach Drehschluss erst einmal sacken lassen.
Ihre Darstellung der ja sehr netten Pflegekräfte und die Darstellung etwa in der Bild-Zeitung vom „Horror-Heim“ gehen sehr auseinander.
Es gab damals nicht nur eine physische, sondern auch eine kommunikative Quarantäne. Dieses Vakuum füllt sich dann nicht mit realen Erfahrungen, sondern mit Gerüchten und Vermutungen. Viele Vorwürfe in den Medien beruhten auf Aussagen von verzweifelten Angehörigen, die gar nicht wirklich wussten, was drinnen los ist. Das haben Journalisten dann trotzdem begierig aufgenommen und ungeprüft gedruckt. Es war für die Pflegekräfte extrem verletzend, so etwas gerade von den Angehörigen jener Menschen zu hören, um die sie sich intensiv kümmerten. Was wir in Wolfsburg erlebt haben, war auch ein großes Versagen von Seelsorge – man hat Angehörige und Pflegekräfte in dieser seelischen Notlage allein gelassen. Dabei ist es doch eine Kernaufgabe von Kirche, wenn Menschen sterben, den Toten einen Namen und der Trauer Raum zu geben! Wenn wir das Sterben verschweigen, machen wir Trauer unmöglich. Ich denke, in der Dokumentation kommt gut rüber, wie groß die Sehnsucht nach solchen Räumen war.
Sie sind selbst engagiert in der Kirche, die Sie nun kritisieren.
Ich denke, dass auch die Kirchen in der Pandemie einen Lernprozess durchgemacht haben. Die Fokussierung auf digitale oder analoge Gottesdienste in der ersten Phase war nachvollziehbar, aber im öffentlichen Auftreten ist dabei die Balance zwischen Seelsorge und Verkündigung verloren gegangen. Die muss auch in der vierten und fünften Welle immer wieder neu gesucht werden.
Wie kann denn so eine Seelsorge aussehen, etwa wenn man gar keinen Kontakt zu Bewohnern der Pflegeheime haben konnte?
Es geht ja eben nicht nur um die Bewohner. Mich hat sehr beeindruckt, wie nach der Hochwasser-Katastrophe im Sommer Teams von Notfallseelsorgern in ihren violetten Westen mit Bollerwagen voll Teekannen zu den Menschen in ihren zerstörten Häusern gezogen sind. Diese niedrigschwellige Seelsorge ist auch öffentlich sehr wahrgenommen worden – und die bei Corona viel diskutierte Frage nach der Relevanz von Kirche hat sich bei der Flut gar nicht erst gestellt. Diese Bollerwagen mit Tee und Zigaretten hätte es vielleicht auch vor manchen Pflegeheimen zum Schichtwechsel gebraucht.
Was bedeutet Ihnen der Glaube?
Mir fällt es schwer, so etwas auf Bekenntnisformeln zu bringen. Wenn man sagt: Ich habe einen Glauben, klingt das fast nach Besitz. Aber ich besitze keinen Glauben. Ich spüre in meinem Alltag, dass ich die Grundzusage, behütet und getragen zu sein, gerade auch in Situationen erfahre, wo meine eigene Kraft nicht ausreicht oder wo ich eine große Dankbarkeit empfinde.
Aber Glaube ist ja doch die Überzeugung von irgend etwas.
Für mich ist es ein Vertrauen darauf, dass jeder Mensch getragen ist von diesem liebenden Gott, der uns auch in unserer gesellschaftlichen Realität nicht uns selbst und unserer Überforderung überlässt. Das finde ich sehr tröstend in Zeiten wie dieser.
Sie haben ein Buch geschrieben, „Kann Kirche Demokratie?“. Wieso stellte sich Ihnen diese Frage?
Diese Frage muss sich jede Organisation stellen in einer Phase, in der die Demokratie eben nicht mehr die historisch unangefochtene Gesellschaftsform ist, sondern von innen wie von außen massiven Angriffen und Herausforderungen unterliegt. Jede Organisation muss sich fragen, wo ihre Ressourcen liegen, um dieser gefährdeten Demokratie gut zu tun. Das habe ich exemplarisch am Beispiel Kirche durchdekliniert. Das müssen andere Organisationen auch machen.
Der Buchtitel lautet ja nicht „Konnte Kirche Demokratie“, sondern „kann“. Sie schlagen also eine Brücke in unsere heutige Zeit?
Ja, wir müssen uns einerseits unseres toxischen Erbes bewusst werden, andererseits müssen wir aufmerksam sein gegenüber jenen, die eine 180-Grad-Wende in der Erinnerungspolitik konstruieren. Das ist eine Hauptstoßrichtung von rechtsextremen Kreisen wie der AfD. Die haben 2019 ganz offen ein perfides Narrativ in die Welt gesetzt: In einer Kampfschrift behauptet die AfD eine doppelte Kontinuität: Einerseits zieht sie eine direkte Linie von den „Deutschen Christen“ in der NS-Zeit über die DDR-Kirchen in der SED-Diktatur bis hin zur angeblichen Obrigkeitshörigkeit der EKD gegenüber der „Merkel-Diktatur“. Parallel dazu wird dann eine Kontinuität gezogen von der Bekennenden Kirche in der NS-Zeit über diejenigen, die in der SED-Diktatur Widerstand geleistet haben bis hin zu denen, die sich gegen die „Merkel-Diktatur“ wehren. Die EKD hielt das damals für so absurd, dass sie hoffte, das würde sich von selbst erledigen. Heute sehen wir auf Querdenker-Demonstrationen, wie man sich überall auf Dietrich Bonhoeffer, Sophie Scholl und die friedliche Revolution von 1989 bezieht. Diesem fürchterlichen geschichtsverfälschenden Narrativ hätte man mit einem selbstkritischen Wissen um die eigene Geschichte viel früher widersprechen müssen. Heute hat sich diese Geschichtsklitterung in der Querdenker-Szene fast schon gewohnheitsmäßig verfestigt. Das zieht sich bis in Kirchengemeinden rein, da darf man sich nichts vormachen.
Was sollte die Kirche Ihrer Meinung nach konkret tun?
Die Kirche sollte nicht denken, sie sei wegen des Glaubens per se immun gegen Antidemokratisches. Sie hat es ein stückweit geschafft, sich zu immunisieren, aber es braucht ein ständiges Boostern gegen diese menschenfeindlichen Kräfte. Unsere Gesellschaft wird immer pluraler werden. Die Kirche muss sich fragen, wie sie sich in Zukunft entwickeln will. Sind wir als kleiner werdende Gemeinden ein Lernort in dieser vielfältigen Gesellschaft, oder verengen wir uns durch unsere demografische Zusammensetzung – bildungsbürgerlich, milieuverengt – zu einem Rückzugsraum gegen den gesellschaftlichen Wandel – einem Ort, wo sich die zu Hause fühlen, die sagen: „Hier sind wir noch richtig deutsch, hier haben wir unseren Luther, unseren Bach und unsere alten Lieder, und hier sind wir alle noch blond und blauäugig.“ Es gibt in der Kirche beides: Das Bewusstsein dafür, dass wir die Fenster weit aufmachen müssen, und gleichzeitig gibt es bei manchen die Sehnsucht, mit dem Rückzug auf ein vermeintliches Kerngeschäft ein Bollwerk gegen den Wandel zu werden.
Was unterscheidet die Kirche dann von einer politischen oder Bürgerinitiative? Öffnet die Kirche mit dem Glauben denn nicht eine Perspektive, die andere Organisationen oder Parteien nicht haben? Das Vertraute daran sind doch gerade Luther und Bach?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin ein großer Bach-Freund. Und natürlich sind mir die alten Kirchenlieder lieb. Das gehört für mich dazu, davon will ich nichts wegnehmen. Aber zu sagen, wir ziehen uns darauf zurück, das darf nicht sein. Bei den Menschen sein, damit meine ich die Seelsorge, das Zuhören. Kirche wird heute vor allem bei einschneidenden Veränderungen im Leben wie Taufe, Schulanfang, Trauung oder Beerdigung wahrgenommen. Darauf sind wir mit unseren Angeboten eingestellt. Aber es ist doch auch ein tiefer Einschnitt, wenn Geschäfte in der Pandemie nach 70 Jahren und einer vier Generationen umfassenden Geschichte schließen müssen, wenn die beliebte Kneipe im Stadtteil dicht macht oder wenn Künstler ihre Karriere aufgeben mussten. Für die Betroffenen sind das sehr persönliche Krisen, aber auch gesellschaftliche Folgen von Corona, für die wir auch als Kirche eine Sprache finden müssen.
Was genau hat das noch mit Gott zu tun? Warum sollte ich mich ausgerechnet an die Kirche wenden, wenn ich einen Raum suche und Menschen, die mit mir reden?
Weil die Botschaft der Kirche ist: Gott interessiert sich für dich. Ich erinnere an den Satz der Pflegekraft in der Dokumentation: „Wenn Sie wüssten, was hier los ist.“ Das ist der Seufzer der Gesellschaft, wenn so viele Gespräche wegen der Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden können. Wir sind als Menschen darauf angewiesen, dass wir miteinander reden. Dieses Wissenwollen in den Horizont der Liebe Gottes zu stellen: Das ist für mich das Kerngeschäft der Kirche.
Vielen Dank für das Gespräch.
Arnd Henze, Jahrgang 1961, hat in Göttingen, Heidelberg und Berkeley evangelische und ökumenische Theologie studiert. Von 2012 bis 2019 war er Fernsehkorrespondent im ARD-Hauptstadtstudio, seit 2019 ist er Redakteur für das Ressort Innenpolitik/Investigativjournalismus beim WDR in Köln. Für die Dokumentation „Ich wusste nicht mal, wie er starb“ über ein Wolfsburger Pflegeheim, in dem zu Beginn der Corona-Pandemie 47 Bewohner an dem Virus starben, erhielten er und seine Kollegin Sonja Kättner-Neumann unter anderem den Publizistik-Preis der Stiftung Gesundheit. Henze ist Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Dieser Text erschien in der Ausgabe 1/2022 des Christlichen Medienmagazins PRO. Sie können PRO kostenlos online bestellen oder telefonisch unter 0 64 41/5 66 77 00.