Ausgerechnet ein Streit um Religion hat Alexander Görlach und Björn Böhning zusammengeführt. Beide begleiteten den Berliner Pro-Reli-Streit um die Einführung eines konfessionellen Unterrichts als ordentliches Lehrfach an Schulen – Görlach als Journalist, Böhning als Politiker. Schon damals pflegten sie die Streitkultur, wie sie am Donnerstag in Berlin im Gespräch mit dem Journalisten Frank Schirrmacher verrieten. Nun gibt es ihre Debatten Schwarz auf Weiß. Das Buch "Freiheit oder Anarchie? Wie das Internet unser Leben verändert" ist im "Vorwärts"-Verlag erschienen. Es ist ein Buch über das Leben in einer digitalisierten Welt, verfasst von zweien, die sich als "Digital Natives" verstehen und eigentlich gegensätzlicher nicht sein könnten. Görlach gilt als konservativ, arbeitete bereits für die CDU-Bundestagsfraktion und wurde unter anderem in katholischer Theologie promoviert. Heute ist er Chefredakteur des Online-Debattenmagazins "The European". Böhning war Vorsitzender der Jugendorganisation der SPD (Jusos) und agiert heute als Chef der SPD-Linken. Es überrascht also nicht, dass es in dem Buch der beiden auch um Gott, Werte und den Konservativismus geht.
Das Web – religionsfreie Zone?
So will Görlach in der Facebook-Nutzung religiöse Züge erkennen. Religion sei von jeher durch Liturgien, Gemeinschaft und Sprachcodes, etwa das gemeinsam gesprochene Gebet, geprägt und diene als eine Art kulturelles Gedächtnis der Gesellschaft. Facebook, so seine These, weise all diese Aspekte ebenso auf. Das soziale Netzwerk habe eine eigene Sprache, es werde fröhlich "geadded" und "geliked". Wer nicht an Facebook teilnehme, sei aus gewissen Bereichen ausgegrenzt. Weiter schreibt Görlach: "Von der halben Milliarde Menschen, die derzeit bei Facebook angemeldet sind, hat die überwältigende Zahl der Mitglieder denn auch einen starken Glauben: in die Gebote dieser neuen Religion, in die von ihr formulierten Sicherheitsstandards und Datenschutzbestimmungen." Diese Mehrheit vertraue der Zentrale des Unternehmens in Kalifornien so, wie gute Katholiken dem Papst vertrauten. Dennoch gebe es mindestens einen grundlegenden Unterschied zwischen beiden: Das Christentum glaube an den freien Willen des Menschen, Facebook hingegen sehe ihn als kommunizierend und konsumierend und habe daher keinerlei Berührung mit dem Metaphysischen. "So würde dieses soziale Netzwerk nur die Benutzeroberfläche des Menschen verändern, und nicht das Backend", folgert Görlach.
Böhning hingegen hält das Netz für eine weitgehend religionsfreie Zone und nutzt diese Erkenntnis für Kritik an den Kirchen. Das Netz säkularisiere die Gesellschaft. Er schreibt: "Das Urversprechen der Religion, nämlich ein besseres in einem anderen Leben, findet keinen Zugang zum Netz. Das Internet selbst ist nämlich der Ort, in dem die Menschen nach Glück streben – und sei es nur ein scheinbares Glück." Es gebe Beziehungsbörsen, Ratgeber oder soziale Plattformen, Ersatz also für die unvollkommene reale Welt, ein wenn auch konstruiertes, gelobtes Land. Zudem sei das Internet die schnellste Verbindung unserer Zeit. "Die Religion, die auf Wertevermittlung, Nachdenklichkeit oder Innehalten ausgerichtet ist, wird immer Probleme haben, diesem Zeitgeist standzuhalten", findet Böhning. Entsprechend schwer tue sich der Klerus auch beim Umgang mit dem Netz. "Die großen Kirchen Deutschlands sind meilenweit davon entfernt, sich den säkularen Raum Internet zu erobern", heißt es. Sie hätten das Netz schlicht aufgegeben. "Schaffen es die Kirchen nicht, sich zu verändern, werden sie weder das Internet, noch unser Leben verändern", urteilt Böhning.
Die Zehn Gebote haben Bestand, auch im Netz
Ebenso wie die Kirchen, täten sich auch die Konservativen in Deutschland schwer mit der Freiheit des Internets, schreibt der SPD-Politiker weiter. Es gebe eine konservative Angst vor staatlichem Machtverlust, das Web 2.0 verändere aber die Partizipationsansprüche der Bürger und stärke die Basisdemokratie. Die Furcht der Bevölkerung vor dem "unbekannten Wesen Internet" werde zusätzlich durch Sendungen wie "Tatort Internet" geschürt. Das Netz werde verteufelt und als Brutstätte für Verbrechen dargestellt. "Diese Kritik verkennt, dass nicht das Internet Kriminalität erzeugt, sondern dass diese Fehlentwicklungen mitten in der Gesellschaft entstehen", schreibt Böhning. Auch Görlach beobachtet, dass sich etwa die Union schwer mit Online-Themen tue, dabei sei sie Teil der digitalisierten Gesellschaft, schreibt er: "’Konservative‘ waren auch gegen die Dampflokomotive und das Automobil. Benutzt haben es dann doch alle. Ich kenne keinen sogenannten Konservativen, der keinen Mail-Account hat."
Welche Werte gelten also heute im Netz? Welche Leitlinien haben Bestand? Nach wie vor die Zehn Gebote, hofft Görlach. Das Netz könne kein anstandsfreier Raum sein: "Was man mit Gesetzen nicht regeln kann, das muss das Ethos und die Moral in einer Gesellschaft regeln." "Du sollst nicht stehlen", "Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut" oder "Du sollst kein falsches Zeugnis geben wider deinen Nächsten" müssten mehr denn je auch im Netz gelten, sei dort doch auch die Versuchung zur Übertretung größer. Auch Böhning setzt auf Netz-Normen. Die Musikindustrie habe zuletzt erhoben, dass sich Internetnutzer, die illegal Daten aus dem Web laden, durchaus ihrer Schuld bewusst seien. Er folgert: "Die Kultur der analogen Welt ist also bewusster und stabiler als mancher netzpolitisch Aktive es wahrhaben will." (pro)
Björn Böhning/Alexander Görlach: "Freiheit oder Anarchie? Wie das Internet unser Leben verändert." Vorwärts Buchverlag, 2011, 96 Seiten, 10,00 Euro