PRO: Erleben wir am 22. September in Brandenburg einen ähnlichen Wahlausgang wie in Sachsen oder Thüringen? Mit zwei populistischen Parteien als größten Zugewinnerinnen?
Benjamin Lassiwe: Die Ausgangslage war in Brandenburg lange ganz anders: In Sachsen hatten wir einen Zweikampf von AfD und CDU erlebt, beide lagen etwa gleichstark bei 30 Prozent und danach kam sehr lange nichts. In Thüringen hatten wir eine dominante AfD und mit Bodo Ramelow einen Ministerpräsidenten, bei dem klar war, dass er es nicht wieder schaffen wird. Zudem eine CDU bei rund 20 Prozent. In Brandenburg lagen CDU und SPD noch Anfang August gleichauf. Mittlerweile hat der personalisierte Wahlkampf von Ministerpäsident Dietmar Woidke (SPD) aber dazu geführt, dass die SPD zur AfD fast aufgeschlossen hat, während die CDU auf 15 Prozent – ihren schlechtesten Wert bei einer Landtagswahl – zurückgefallen ist. Zuletzt hat sogar Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer Woidke unterstützt, ein Vorgang, der bei jedem einfachen Parteimitglied zu einem Ausschlussverfahren führen würde. Es kann sein, dass die AfD stärkste Kraft wird. Aber ich glaube nicht, dass es zu einer Sperrminorität kommt. Von den Brandenburger Wählern lebt ein Drittel im Berliner Speckgürtel. Das Milieu ist also zum Teil großstädtisch und auch eher wohlhabend. Das wäre eine Erklärung dafür, dass die AfD hier nicht ganz so stark ist.
Wird es zu einem Bündnis zwischen CDU, SPD und BSW kommen?
Fest steht: Keine der drei genannten Parteien wird mit der AfD koalieren, das haben alle vor der Wahl ausgeschlossen. Wenn es für Schwarz-Rot-Grün reicht, dann wäre das eine Option, wenn auch eine ungeliebte. Wenn die Grünen aus dem Landtag fliegen, sollten die beiden Großen in Betracht ziehen, mit dem BSW zusammenarbeiten. Die aktuellen Umfragewerte lassen aber plötzlich auch eine „Große Koalition“ von SPD und CDU wieder in den Bereich des Möglichen kommen.
Würde es der CDU nicht schaden, mit dem BSW, einer linkspopulistischen Partei, zusammenzuarbeiten?
Es entscheidet die Macht des Faktischen. Wenn es nur diese Option gibt, um die AfD zu verhindern, dann sollte sie es tun. Immerhin haben die Parteien einen Auftrag zur Regierungsbildung und demokratische Verantwortung.
Im Brandenburger Landtag sitzen derzeit 24 Abgeordnete der AfD … und damit auch regelmäßig in der Landespressekonferenz. Was sind Ihre Erfahrungen mit ihnen?
In den Landtagssitzungen bekommt die AfD am laufenden Band Ordnungsrufe, weil sie sich daneben benimmt. Um ein Beispiel zu nennen: Sobald ein AfD-Politiker eine Rede hält, gibt des Jubelrufe und Gejohle aus deren Reihen, bei Reden aus anderen Fraktionen hören wir auch ein ständiges Getöse, sodass die Grenzen der Höflichkeit gegenüber den Kollegen doch stark überschritten werden. Die AfD macht außerdem etwas, was ich als gezieltes Scharfmachertum bezeichnen würde. Auch hier ein Beispiel: Ende August gab es eine Sondersitzung zum Anschlag in Solingen. Die AfD forderte den Ausschluss von Geflüchteten aus öffentlichen Veranstaltungen. Explizit auch für ukrainische Kriegsflüchtlinge, für Geduldete und für subsidiär Schutzberechtigte, also Menschen, die in ihrer Heimat verfolgt werden. Der Antrag wurde abgelehnt, aber so verschiebt diese Partei die Grenze des Sagbaren. Als die AfD vor zwei Legislaturperioden in den Landtag kam, hat Alexander Gauland noch versucht, sich als Konservativen jenseits der CDU zu geben. Seitdem ist die Partei immer weiter nach rechts gerückt. Sie spielt damit, Erinnerungen an die NS-Zeit wachzurufen und hat zugleich ein Problem mit unserer Erinnerungskultur. Hinzu kommt noch etwas: Wir haben in dieser Legislaturperiode vier Untersuchungssschüsse gehabt. Alle von der AfD initiiert. Zwei Mal zu Corona, zum Flughafen und zum RBB. Die ersten drei waren völlig sinnfrei, da wir im Bund bereits solche Untersuchungen hatten, alle Akten wurden bereits drei Mal durchgelesen. Es ist alles gesagt.
Warum macht die Partei das Ihrer Meinung nach?
Jeder Untersuchungsausschuss schafft eine neue Referentenstelle für die Fraktion. Und damit Möglichkeiten, den Nachwuchs aus der Jungen Alternative (der Nachwuchsorganisation der AfD, d. Red.) zu beschäftigen. Außerdem sorgen solche Ausschüsse natürlich für Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber den anderen Parteien und der Regierung.
Sie sind Vorsitzender der Landespressekonferenz. Wie verhält sich die AfD gegenüber Journalisten?
Anders als andere Parteien. Ich habe es schon erlebt, dass Journalisten bei Fraktionspressekonferenzen vom Gastgeber gebeten wurden, Name, Redaktion und allen Ernstes auch die „Parteizugehörigkeit“ zu nennen – was die Kollegen natürlich ignoriert haben. Das dient der AfD aber insofern, als die Partei selbst Videos davon macht und sie ihren Followern zur Verfügung stellt. Es gibt immer wieder mal Versuche, uns Journalisten vorzuführen. Niemand bei der AfD gibt uns gerne eine Auskunft. Sie sieht uns bestenfalls als notwendiges Übel, aber niemals als vierte Gewalt, die die anderen Gewalten kritisch begleiten soll. Noch ein Beispiel von den Landesparteitagen: Es gibt dort festgelegte Pressebereiche, die Journalisten nicht – wie bei Parteitagen anderer Parteien – verlassen dürfen. Es ist nicht möglich, durch die Reihen zu gehen, oder sich unter vier Augen mal mit einem bestimmten Politiker zu unterhalten, ganz anders als bei allen anderen Parteien. Jeder, der mit der Presse spricht, fällt auf. Und es ist schwerer, die Stimmung vor Ort aufzufangen. Ich würde das schon als Einschränkung der Pressefreiheit bezeichnen. Auf keinem anderen Parteitag habe ich bisher T-Shirts mit dem Design der Reichsflagge gesehen, Flyer mit bekannten Personen in Wehrmachtsuniformen, nirgends Infomaterial der Identitären Bewegung oder gar Bibeln mit Parteiaufklebern, verteilt durch die „Christen in der AfD“. Das alles gibt es nur dort. Und wenn ich das noch hinzufügen darf: Ich würde mir wünschen, dass gerade im christlichen Spektrum viele die AfD nicht nur als die Partei wahrnehmen, die gegen Abtreibung ist und den Islam kritisch sieht. Sondern dass fromme Menschen sich auch Gedanken darüber machen, was die AfD etwa mit Konvertiten aus dem Iran in Deutschland anstellen würde.
Vor den Wahlen in Sachsen und Thüringen hat die Deutsche Bischofskonferenz erklärt, die AfD sei für Christen unwählbar. Dieselben Töne kommen auch aus den anderen Kirchen. Nur: Manche Christen wählen die AfD dennoch. In Thüringen etwa 32 Prozent der Katholiken und 29 Prozent der Protestanten. Sollte die Kirche ihre Strategie an der Stelle ändern?
Mein Eindruck ist, dass die Katholische Bischofskonferenz sich bemerkenswert deutlich zur AfD geäußert hat – und zwar zum ersten Mal seit langem. Selbstverständlich führt das nicht dazu, dass alle Katholiken dem folgen. So ist es ja bei allen anderen Stellungnahmen der Kirchen auch. Aber dass die Zahl der AfD-Wähler unter den Christen derart hoch ist, zeigt eindeutig, dass solche Stellungnahmen wichtig sind. Nebenbei bemerkt sehe ich hier im Landtag, wie sehr die AfD über solcherlei Stellungnahmen verärgert ist. Immer wieder veröffentlicht man Pressemitteilungen gegen die Kirche. Das zeigt, dass deren Äußerungen treffen.
Der Berliner Bischof Christian Stäblein hat zu den Wahlen in Sachsen und Thüringen gesagt: Jetzt gehe es darum,„zu fragen und zu hören, was den Menschen fehlt, die AfD wählen“. Hat die Kirche das in der Vergangenheit versäumt?
Es braucht eine klare Abgrenzung der Kirchen zur AfD und ihrem Programm. Sonst werfen die Kirchen ihre eigenen Anliegen über den Haufen. Aber es braucht auch das Gespräch mit Christen, die vom AfD-Programm angezogen werden. Kirche braucht – auch bei ihren Mitgliedern – einen gewissen Wertegrundkonsens und muss den auch vermitteln.
Ein Grundkonsens auch für politische Überzeugungen?
Wir lesen in der Bibel, dass wir uns um Fremde kümmern sollen, weil wir versehentlich einen Engel beherbergen könnten (Hebräer 13,2, d. Red.). Wir lesen die Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten. Pfarrer predigen Nächstenliebe. Das muss sich doch auch im christlichen Leben zeigen. Die Geschichte der Kirchen, besonders auch der Freikirchen, im Nationalsozialismus hat gezeigt, dass politische Neutralität ins Verderben führt. Und wenn wir uns daran erinnern, wie die Kirchen noch bis vor einigen Jahren wegen deren SED-Vergangenheit mit der Linkspartei umgegangen sind – da gab es keine Gespräche, man ging nicht zu Empfängen, eine wahre Eiszeit – dann ist der jetzige Umgang mit der AfD doch kein Unikum.
Sollten christliche Werke wie die Diakonie also wie angekündigt Mitarbeiter ausschließen, die die AfD unterstützen?
Ja, wenn die Diakonie weiterhin ein christlicher Träger sein will und nicht einer unter vielen. Ein AfD-Funktionär, der das Pflegeauto fährt, würde doch sehr am Selbst- und Leitbild der Organisation kratzen. Die Beschäftigung wäre quasi geschäftsschädigend. Etwas anderes ist es, wenn die Parteiunterstützung nicht sichtbar wäre. Wer keine AfD-Thesen verbreitet, steht ja in keiner Gefahr. Das Wahlgeheimnis bleibt in der Wahlurne.
Herr Lassiwe, danke für das Gespräch!