Rezension

Gewaltloser Kämpfer, Pastor, Womanizer

Martin Luther King veränderte Amerika. Er war baptistischer Pastor, aber kein Heiliger. Der Journalist Jonathan Eig bringt mit seiner ersten großen Biografie seit 30 Jahren dem Leser den wohl bekanntesten Bürgerrechtler der Welt näher.
Von Jörn Schumacher
Der Baptistenpastor und Bürgerrechtler Martin Luther King jr.

Martin Luther King gilt bis heute als der bekannteste Anführer der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Eine Ikone, deren Einfluss bis in unsere Zeit reicht. Kings Rede „I have a dream“ in Washington wurde über alle Grenzen und Zeiten hinaus bekannt. Nach dem Baptistenpastor ist ein nationaler Feiertag in den USA benannt, ein Nationaldenkmal sowie Tausende Straßen.

Der amerikanische Journalist Jonathan Eig schrieb bereits mehrere Biografien, etwa über Al Capone und Muhammad Ali. Seine King-Biografie stieg vergangenes Jahr auf die Bestsellerliste der New York Times ein, war laut dem Time Magazine eines der zehn besten Sachbücher des Jahres und stand auf der Liste der persönlichen Buch-Empfehlungen von Ex-Präsident Barack Obama.

Das Buch basiert auf Tausenden jüngst freigegebenen FBI-Dokumenten und Zehntausenden anderen neuen Quellen – darunter private Briefe, geschäftliche Unterlagen, Telefonaufnahmen und nicht gesendetes TV-Material. Nun ist erfreulicherweise eine deutsche Übersetzung von Henriette Zeltner-Shane und Sylvia Bieker im DVA Verlag erschienen.

Sklaventum – gesetzlich verankert

Der Biograf beginnt bei Kings Großeltern: Großmutter Delia King, die mit ihrem Mann Jim zehn Kinder bekam, sei „eine sehr fromme Christin“ gewesen, erinnerte sich Martin Luther King später. Eig beschreibt, wie sehr der Rassismus die Vereinigten Staaten gerade im Süden noch fest im Griff hatte, umso stärker, je weiter man im 20. Jahrhundert in die Vergangenheit geht. Es gab noch gesetzlich erlaubte Leibeigenschaften, die sich kaum von Sklaverei unterschieden, sowie Gesetze zur Unterordnung Schwarzer: etwa in Schulen, Zügen, Theatern, Kirchen, Hotels, Krankenhäusern und auf Friedhöfen.

Es waren die Kanzeln der Schwarzen Kirchen, von denen herab nicht nur Hoffnung und „Erleichterung von den Qualen des Alltags“ gepredigt wurden, schreibt Eig. „Schwarze Baptistenprediger verkündeten häufig die radikale Botschaft, dass vor Gottes Gesetzen alle Menschen frei und gleichberechtigt seien, dass die von den Weißen überlieferten Regeln und Vorschriften falsch, dass zudem die von Menschen erfundenen Rassenhierarchien zur Rechtfertigung von Sklaverei falsch und feige seien, dass die Grausamkeiten des Ku-Klux-Klans und die Rassentrennungsgesetze des Südens in den Augen Gottes ein Gräuel seien und dass Gott niemals ganz bestimmte Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe mehr lieben würde als andere.“ Die Leute waren nicht gebildet, sagte King später, „aber sie kannten Gott“.

Kings Vater wollte schon mit 20 Jahren Prediger werden. „Er fand Beschäftigung bei verschiedenen Kirchen, rezitierte Bibelverse auswendig und improvisierte Predigten.“ Kings Vater gab sich den Zwischennamen „Luther“ selbst, nachdem er auf einer Reise nach Deutschland 1934 mehr über den ehemaligen Mönch des 16. Jahrhunderts lernte, der die protestantische Reformation angestoßen hatte.

Martin Luther King jr. wuchs im Viertel Sweet Auburn in Atlanta auf, in dem er größtenteils abgeschirmt von den rassistischen Regeln war, die normalerweise im Süden galten. Dennoch erlebte auch er Rassismus freilich schon früh. Fest in die Erinnerung brannte sich bei King, als ein weißer Schulfreund auf einmal nicht mehr mit ihm spielen durfte, schlichtweg wegen seiner Hautfarbe. „Von diesem Moment an war ich entschlossen, jeden Weißen zu hassen“, sagte King später. Ein Vorhaben, das er, nicht zuletzt wegen seines christlichen Glaubens, überwand. Auch Kings Vater war es, der seinem Sohn früh eine Art von „sanftem“ Widerstand beibrachte.

Die Theologie Kings kommt in Eigs Biografie nicht zu kurz. Ständig ist sehr intensiv von den Glaubenserfahrungen Kings die Rede, von seinen Visionen, in denen er Gottes Stimme vernimmt, viele seiner Predigten werden streckenweise wörtlich zitiert. Dass King von seinem Glauben an einen gerechten, aber auch liebenden Gott angetrieben war, daran bleibt in diesem Buch kein Zweifel.

Martin Luther King bei seiner berühmten Rede "I have a dream" Foto: Martin Luther King Jr National Historic Site | CC BY 2.0 Generic
Martin Luther King bei seiner berühmten Rede „I have a dream“

Bereits auf dem College, im Alter von 18 Jahren sei King bewusst geworden: „Ich erkannte, dass Gott mir eine Verantwortung auferlegt hatte, und je mehr ich versuchte, ihr zu entkommen, desto frustrierter wurde ich.“ 1950 lernte er die Lehre Gandhis kennen. „Gandhi zeigte King, dass Jesus’ Ethik der Liebe … ein mächtiges Instrument für soziale und kollektive Transformation war“, bilanziert Eig.

Fremdgehen und Plagiate in der Doktorarbeit

„King war ein Mensch, kein Heiliger“, schreibt Eig. Zu Besprechungen kam er chronisch zu spät. Als Heranwachsender versuchte er zwei Mal sich umzubringen. Als Erwachsener schlief er in der Nacht nur wenige Stunden, was zu gesundheitlichen Problemen und häufigen Krankenhausaufenthalten führte. Vor und auch während der Ehe mit seiner Frau Coretta traf sich King mit vielen anderen Frauen. Schon sein Vater sei ein „Womanizer“ gewesen, findet Eig.

King selbst äußerte früh, Angst zu haben, das könne auf ihn auch zutreffen, und ihm werde es schwerfallen, als Pastor das Ehegelübde einzuhalten. Das FBI hatte Kings Telefon angezapft und seine Hotelzimmer verwanzt. Daraus geht hervor, dass King seine Frau permanent betrog. Der Pastor hatte zu diesem Zweck eigens eine Wohnung angemietet. Der Bürgerrechtler Ralph Abernathy schrieb, King habe „eine besonders schwierige Zeit sexueller Versuchung“ erlebt.

„Er war ein relativ privilegierter Mann, der in einer Zeit und Kultur großgeworden war, in der ehebrecherische Handlungen als normal galten.“ Sein gutes Aussehen und sein Charme lockten Frauen geradezu in Scharen an. Sogar von einem vom FBI produzierten Sexvideo ist die Rede, von Sex-Orgien in Hotelzimmern und sogar von einer Vergewaltigung. Eig stuft die Behauptungen indes als wenig glaubwürdig ein.

In seiner Dissertation verglich King die Vorstellung von Gott bei den Theologen Paul Tillich und Henry Nelson Wieman miteinander. Leider stellten 1990 Wissenschaftler der Stanford University fest, dass wesentliche Teile Plagiate waren, schreibt Eig. „In vielen Fällen kopierte er wortwörtlich aus der Quelle auf die Notizkarten ohne Quellenangabe. Besonders schwach war er beim Zitieren von Sekundärquellen.“

Protest im Bus: Rosa Parks Startschuss der Bürgerrechtsbewegung

Zu den alltäglichen Dramen, die Schwarze in den Südstaaten erlebten, gehörte auch die Beförderung in den öffentlichen Bussen. Schwarze mussten weißen Fahrgästen Platz machen. Die Weigerung der einfachen Angestellten Rosa Parks 1955 in Montgomery, zugestiegenen Weißen Platz zu machen, wurde nicht nur als der Startschuss der Bürgerrechtsbewegung in den USA bekannt, sondern war auch der Beginn für Kings Engagement auf diesem Gebiet.

Die Schwarzen boykottierten fortan die Busse, organisierten Mitfahrgelegenheiten und unterstützen sich gegenseitig. Der Protest sollte 381 Tage andauern. King wurde klar, „dass es nichts Majestätischeres gibt als den entschlossenen Mut von Individuen, die bereit sind, für ihre Freiheit und Würde zu leiden und Opfer zu bringen. Er wurde in jenen Tagen Präsident der Montgomery Improvement Association, welche den Protest organisierte“.

Ein Reporter berichtete damals über die so „energiegeladene Menge“: „Sie waren Feuer und Flamme … für Jesus … für die Freiheit. Da herrschte ein Geist, den niemand je für einen Film oder Ähnliches nachstellen könnte, weil er so kraftvoll war.“ Als ein Pastor behauptete, Geistliche sollten sich aus jeglichen politischen Bereichen fernhalten, wetterte King dagegen: „Ich sehe keinen Konflikt zwischen unserer Hingabe an Jesus Christus und unserem gegenwärtigen Handeln. Ich sehe sogar eine notwendige Beziehung. Ist man der Religion Jesu wahrhaft ergeben ist, liegt einem daran, die Erde von sozialen Übeln zu befreien. Das Evangelium ist genauso sozial wie es persönlich ist.“

In den darauffolgenden Jahren sollte King 29 Mal ins Gefängnis kommen. Es gab permanent Morddrohungen und Belästigungen am Telefon, Bombenanschläge und Schüsse auf sein Haus. Bei einer Signierstunde rammte eine psychisch gestörte Frau King einen 20 Zentimeter langen Brieföffner in seine Brust. Ein TIME-Redakteur schrieb über King: „Persönlich, menschlich, wortgewandt und mit einem hohen Bildungsniveau ist Martin Luther King jr. in der Tat das, was viele Negroes – und wenn er nicht die Hautfarbe hätte, auch viele Weiße –gerne wären.“ Das Morehouse College verlieh ihm die Ehrendoktorwürde und der Laudator erklärte, King sei „mit 28 Jahren weiser als die meisten Männer mit sechzig“.

„Die Worte drangen aus King wie ein Song oder Kirchenlied.“

Die Umstände um Kings berühmte Rede „I have a dream“ beim „Marsch auf Washington“ analysiert Eig minutiös wie mit einer Lupe. Dabei geht es weniger um die zahlreichen Prominenten, die auch dort waren (Josephine Baker, Charlton Heston, Paul Newman, Marlon Brando, Harry Belafonte, Tony Curtis, Sidney Poitier, Steve McQueen etc.), sondern um gewöhnliche Menschen, die rückblickend von diesem Ereignissen berichteten.

„Die Worte drangen aus King wie ein Song oder Kirchenlied“, schreibt Eig. Und als King zu dem vom Manuskript abweichenden Worten kommt „Ich habe einen Traum, dass eines Tages alle Täler erhöht und alle Berge und Hügel erniedrigt werden sollen“, war nicht nur der 19-jährigen Zuhörerin Francine Yeager klar: „Jetzt sind wir wirklich in der Kirche! Der Geist hatte den Prediger erfasst, und was für ein Segen, dabei zu sein!“

Auch der Ermordung Kings widmet Eig erwartungsgemäß mehrere Seiten. Er geht dabei auf angebliche Vorahnungen Kings ein. So soll der Pastor, als John F. Kennedy erschossen wurde, zu seiner Frau gesagt haben: „Das wird mir auch passieren.“ Freunde und Kollegen berichten, Wochen vor dem Attentat sei King nicht nur besonders niedergeschlagen gewesen, sondern habe auch „die ganze Zeit über den Tod“ gesprochen.

In einer Predigt wenige Wochen vor seiner Ermordung sagte der Pastor über seine eigene Beerdigung: „Ich möchte, dass jemand an diesem Tag sagt, dass Martin Luther King Jr. versucht hat zu lieben! (…) Ich möchte, dass ihr sagen könnt, dass ich versucht habe, die Menschheit zu lieben und ihr zu dienen!“

Jonathan Eig: „Martin Luther King“, DVA Verlag, 752 Seiten, 34 Euro, ISBN 9783421048455

Das Buch „Martin Luther King“ ist mit 752 Seiten sehr ausführlich geraten. Dabei geht es nur um wenige Jahre –  King wurde nur 39 Jahre alt. Der Leser wird erinnert an eine Zeit, in der die Rassen-Diskriminierung noch schlimmer war als heute. Neu dürfte für viele der „Womanizer“ Martin Luther King sein. Auch die Beziehungen zu Zeitgenossen wie John F. Kennedy oder Malcolm X, die kühler gewesen zu sein scheinen, als man dachte, sind interessant. Erfreulicherweise verschweigt der Autor nicht den christlichen Hintergrund dieses wohl berühmtesten Baptistenpredigers, der die USA durch gewaltlosen Widerstand nachhaltig veränderte.

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