Am Rand von Gjumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, steht ein verwitterter Verkaufsstand, eingelassen in eine steinerne Mauer, die das Grundstück von Tosya Harutyunyan umgibt. Mehr als drei Jahrzehnte verkaufte die 77-Jährige hier selbstgebackenes Lavasch, armenisches Fladenbrot. Das jahrelange Teigkneten hat ihre Hände verkrümmt.
Mit schwieligen Fingern, die nicht zu ihrem zierlichen Körper passen, streicht sie über ein Foto, das sie der Krankenschwester zeigt: ihre zwei Söhne. Sie sind zum Studieren nach Moskau gegangen und geblieben, wie viele andere junge Menschen, geflohen vor Arbeitslosigkeit und korrupten Politikern. Auch das Paar und die junge Familie, die neben Harutyunyan wohnten, sind vor drei Jahren ins Ausland gezogen.
Mit 30.000 Quadratkilometern ist Armenien ungefähr so groß wie Belgien, hat aber nur etwa ein Viertel der Einwohner: Drei Millionen. Direkte Nachbarn hat Harutyunyan keine mehr. Die Häuser stehen leer. „Immerhin hat mir das Paar vor der Auswanderung seinen Fernseher geschenkt“, sagt sie. Wenn sie grinst, schauen zwei Zähne aus ihrem Mund. Sie ist ein großer Bollywood-Fan, hat ihre Katzen nach ihren Lieblingsschauspielern benannt: Michti und Muchta.
Gerade läuft die Übertragung einer Pressekonferenz mit Nikol Pashinjan. Am 8. Mai 2018 wurde er Premierminister, nachdem sich Sersch Sargsjan den friedlichen Protesten beugte und zurücktrat. Gebannt sitzt die alte Frau vor dem Fernseher. „Gott hat uns Pashinjan gesendet“, sagt sie, den rechten Arm nach oben gestreckt. Sie glaubt daran, dass Pashinjan die Alten nicht vergisst. Anfang des Jahres hat seine Regierung die Mindestrente von knapp 30 Euro auf rund 47 Euro erhöht.
Aus einer Schublade zieht sie eine Bibel
Harutyunyan bekommt 74 Euro Rente, davon versucht sie, jeden Monat ein wenig auf die Seite zu legen. Für Bücher – neben Bollywood-Filmen ihre zweite Leidenschaft. Aus einer Schublade zieht sie eine Bibel und eine Leseliste mit Büchern, die sie Schwestern und Sozialarbeitern empfiehlt und ein Buch mit dunkelgrünem Einband. Die Seiten sind speckig, wurden schon von vielen Fingern umgeblättert. Sie beginnt mit der Krankenschwester über den Roman zu reden, in dem es um das Erdbeben von 1988 geht.
Als sich Krankenschwester und Sozialarbeiterin aufmachen, umarmt Harutyunyan beide ein bisschen zu lange. Sie lässt ab, als eine ihrer Katzen um die Beine streicht, dann trottet sie zurück ins Haus.