Senioren in Armenien: Die Vergessenen

Alte Menschen in Armenien, dem ältesten christlichen Land der Welt, sind oft einsam: Die Kinder leben im Ausland, die Renten sind klein, die gesundheitlichen Probleme groß. Im Norden des Landes kämpfen fünf armenische Krankenschwestern mit Unterstützung des Schweizerischen Roten Kreuzes dagegen. Die Christinnen sind für viele ältere Menschen der einzige Kontakt zur Außenwelt. Eine dreiteilige Porträt-Reihe von Theresa Tröndle
Von PRO
Seit sie blind ist, sitzt Nina Kizakosyan an ihrem Fenster im ersten Stock

Nina Kizakosyan – Die Sehnsüchtige

Das Leben draußen liegt für Nina Kizakosyan 36 Stufen weit weg. Achtzehn nach unten, achtzehn wieder hinauf – zu viele für die 70-Jährige. Sie ist blind, traut sich nicht mehr alleine hinaus. An ihrem Fenster im ersten Stock sitzt sie auf drei Decken, eine davon legt sie sich im Winter um die Schultern. An diesem Tag im Mai braucht sie keine, es ist einer der ersten Tage des Jahres, an denen die Sonne in Wanadsor wärmt. Wenn sie sich durch die Wolken schiebt, breitet sich ein Kribbeln in Kizakosyans Gesicht aus. Sie mag das. Es ist einer der wenigen Momente, in denen sie sich lebendig fühlt.

Aus dem Wohnzimmer plärrt ein Radio. Die alte Frau kann keine Stille mehr ertragen, seit sie vor drei Jahren erblindete. Alles um sie herum wurde dunkler. Die Ärzte vermuteten einen Zusammenhang mit ihrer Diabetes-Erkrankung und operierten sie. Dabei verlor sie die restliche Sehkraft. Seitdem schaut sie jeden Tag aus dem Fenster und wartet. Auf die Nachbarin oder das Rote Kreuz, das sie zwei Mal pro Woche besucht.

Ihren Stuhl hat Kizakosyan mit drei Decken gepolstert Foto: Theresa Tröndle
Ihren Stuhl hat Kizakosyan mit drei Decken gepolstert

Im Radio singt ein Priester. Kizakosyan hört die Steine des Schotterwegs, die aneinander reiben, das Platschen der Reifen in die Schlaglöcher, die vom letzten Regen noch voller Wasser stehen – ein Auto nähert sich. Sie weiß: noch achtzehn Stufen.

Viele suchen ihr Glück im Ausland

Die alte Frau wuchs in Rustawi auf, einer Stadt im Südosten Georgiens. Ihr erster Mann starb früh, sie verliebte sich noch einmal, heiratete einen Armenier und folgte ihm in seine Heimat Wanadsor. Zu Sowjetzeiten lebten in der Stadt im Norden des Landes mehr als 150.000 Menschen, heute sind es etwa halb so viele. Knapp jeder fünfte Armenier hat keine Arbeit, unter Jugendlichen sogar jeder dritte. Viele suchen ihr Glück in Russland, Frankreich und den USA. In die Nachbarländer zieht es nur wenige, sie sind mehrheitlich islamisch geprägt. Die Kriege in der Vergangenheit waren auch religiös bedingt. Bis heute ist das Verhältnis zu den Nachbarn Aserbaidschan und Türkei schwierig. Die Grenzen sind geschlossen.

Quietschend hebt sich der Einstieg. Keine Tür, sondern eine Luke wie auf einen Dachboden führt in Kizakosyans Wohnung. Eine Krankenschwester und eine Sozialarbeiterin kommen die Treppe hinauf. Die Krankenschwester dreht das Radio leiser, wirft sich den weißen Kittel mit dem eingestickten roten Kreuz über und fährt der alten Frau über ihren lieblos gestutzten aber pflegeleichten Kurzhaarschnitt, den Friseure grauhaariger Kundschaft oft verpassen.

Seit Ende 2016 arbeiten fünf Krankenschwestern beim Aufbau eines Hauspflegedienstes im Norden des Landes, ein Pilotprojekt, das vom Schweizerischen und dem monegassischen Roten Kreuz finanziert wird. Mehrmals pro Woche besuchen Krankenschwestern, Sozialarbeiter und Freiwillige 123 ältere Menschen, um sie medizinisch zu versorgen und ihnen im Alltag zu helfen. Bis 2020 wollen sie sich um 200 Menschen kümmern.

Kizakosyan ist stolz auf ihren Glauben, wie alle Armenier

„Gurken, Käse, Paprika, Kohl und fünf Tomaten“, ruft Kizakosyan der Sozialarbeiterin in der Küche zu. Es ist der einzige Raum, in dem Tapete die Betonwände bedeckt, sie ist vergilbt und an manchen Stellen so aufgeweicht, dass sie Falten wirft. Ein hölzernes Kreuz ist mit Staub bedeckt. Kizakosyan ist stolz auf ihren Glauben, wie alle Armenier. Das kleinste Land auf dem Balkan erhob vor rund 1.700 Jahren, als erstes Land, das Christentum zur Staatsreligion. Bis sie erblindete, ging Kizakosyan jeden Sonntag in die Kirche. Neben dem Herd steht ein Teller mit Linsen und Reis – Kizakosyans Mittagessen, wenn das Geld knapp wird. Erst vor wenigen Tagen wurde ihre Rente überwiesen: 37.000 Dram, umgerechnet knapp 70 Euro – zwei bis drei Euro kostet ein Mittagessen in einem günstigen Restaurant.

Während die Sozialarbeiterin einkaufen geht, krempelt die Krankenschwester einen Ärmel von Kizakosyans Pullover hoch und legt ihr eine Manschette um den Arm. Die alte Frau tippelt mit den Füßen. Sie soll nicht sprechen, während der Blutdruck gemessen wird. Erst danach erzählt sie. Von ihrem kranken Bruder, ihrem verstorbenen Mann, der Renovierung des Hauses und dem Alleinsein: „Wenn ich einsam bin, wasche ich Geschirr ab“, sagt sie. Sie spricht schnell, lässt raus, was sich in den letzten Tagen Einsamkeit angestaut hat. Sie möchte in Georgien begraben werden, in Tiflis, dort hat sie Verwandte. Sobald sie von ihrer Heimat erzählt, mischt sich ein Hauch Melancholie in ihr verschmitztes Lächeln. Versunken summt sie ein berühmtes Volkslied ihrer Heimat: „Wo sonst ist der Himmel so blau und rein und tief? Tiflis ohne dich fehlt meinem Leben die Süße.“

Klingeln. Die Sozialarbeiterin ist am Apparat. Ein Kilo Tomaten kostet 1,60 Euro. Teurer als noch vor einer Woche. Kizakosyan bittet sie, doch nur vier Tomaten mitzubringen.

In der Porträt-Reihe zu Armenien veröffentlicht pro am Mittwoch und Donnerstag jeweils eine weitere Geschichte.

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