Der Historiker Wolfgang Reinhard vertritt die Ansicht, dass die Weltreligionen ursprünglich nicht dazu da sind, um Frieden zu stiften. Religionen führten leicht zu Gewalt, schreibt er in einem Essay in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom Montag. Das sei nicht überraschend. Denn wie andere soziale Gruppen auch neigten sie dazu, „sich für besser zu halten als andere“. Das Christentum mache da keine Ausnahme: „Wir möchten nur zu gerne glauben, dass Religion im Allgemeinen und ganz besonders die christliche Religion dem Wesen nach eine friedliche Angelegenheit und religiöse Gewalt deshalb nur durch abartige, fremde Einflüsse zu erklären sei.“ Der monotheistische Gott sei eifersüchtig, dulde keine Konkurrenten neben sich und verpflichte seine Anhänger „zur ausschließlichen Rechtgläubigkeit“.
Geschichte und Gegenwart kennten aber nicht nur christliche oder muslimische Gewalttätigkeit. Sie sei etwa auch in indischen Religionen oder im Buddhismus zu finden. „Die friedensstiftende Verantwortung der Weltreligionen, von der heute gerne geredet wird, ist also eine Fremdzuschreibung“, schreibt der Historiker in der FAZ. Die sei den „moralpolitischen Bedürfnissen“ der Zeit geschuldet.
Säkularisierung hier, religiöses Wachstum dort
Religion als solche kann nach Einschätzung Reinhards jedoch keine Gewalt auslösen, weil sie nie in „chemisch reiner, begrifflich sauberer Form“ auftrete, sondern wie alle menschlichen Produkte „nur in ihren kulturellen und geschichtlichen Zusammenhängen“ zu haben sei. Auch „ursprünglich eher friedliche Religionen“ wie das Christentum oder der Buddhismus könnten unter „bestimmten Bedingungen gewalttätig“ werden.
Mit zunehmender Säkularisierung der westlichen Gesellschaft und damit nachlassendem Interesse an religiösen Fragen und der Religionen an sich schwinde auch das „besondere Mobilisierungspotential für Gewalt“, das den Religionen inne wohne. Reinhard erkennt einerseits in der westlichen Welt einen Trend hin zum „allmählichen Absterben und vollständigen Verschwinden von Religionen“.
Andererseits sieht der Historiker in Osteuropa und anderen Teilen der Welt eine „neue Blüte verschiedener Christentümer“. Zudem sei der Islam in Afrika „zur exandierenden religiösen Weltmacht“ geworden. Reinhard schreibt: „Religion blüht und gedeiht.“ Seiner Meinung nach haben allerdings osteuropäische, lateinamerikanische und afrikanische Christen und sogar die Muslime“ die Säkularisierung, die der Westen schon erlebte – Reinhard spricht von „religiöser Krise“ –, noch vor sich.
Er kommt zu dem Schluss, dass in Zukunft „religiös geprägte Gewalt unterschiedlicher Reichweite“ keinesfalls ausgeschlossen werden kann. Er schreibt: „Denn Religion als anthropologisches Kulturphänomen muss notwendigerweise immer für Gewalt anfällig bleiben. Aber vielleicht lässt sie sich dank dieser Einsicht gelegentlich wenigstens zähmen.“
Von: Norbert Schäfer