Orlando (Florida), wir schreiben den 18. Juni. US-Präsident Donald Trump wird gleich vor über zehntausend Fans seinen Antritt zur Wiederwahl bekanntgeben und den Wahlkampf eröffnen. Aber vorher betritt Paula White-Cain das Podium. Sie ist bekannt als Fernsehevangelistin und langjährige Hauptpastorin der nichtkonfessionellen evangelikalen Megakirche „New Destiny Christian Center“. Sie fordert die Teilnehmer der Versammlung auf, sich bei den Händen zu fassen („I believe in the power of unity“), und dann betet sie fast fünf Minuten lang, wie zur Eröffnung einer Evangelisation.
Nun ist es in den USA durchaus üblich, dass Prominente ihre christlichen Seelsorger haben – oft ebenfalls prominente Pastoren – die zu gegebenen Anlässen auch öffentlich für sie beten. Aber dieses Gebet einer ausgewiesenen Evangelikalen fand ich als ebenfalls Evangelikaler trotzdem einigermaßen erstaunlich. Paula White zitiert während dieses Gebetes eine Menge Bibelstellen, unter anderem das aus Händels „Messias“ bekannte Psalmwort: „Die Könige der Erde lehnen sich auf, und die Herren halten Rat miteinander wider den Herrn und seinen Gesalbten“ (Psalm 2,1–4).
Sie bezieht es aber auf Donald Trump und seine politischen Gegner! Sie betet im Namen Jesu, dass Gott, der Vater, „jedes dämonische Netzwerk, das sich gegen die Bestimmung und die Berufung von Präsident Trump erhebt, bricht und zugrunde gehen lässt“. Wie die Washington Post schrieb, sagte sie nicht, wen genau sie damit meint. Aber ihre Formulierung lehnt sich an Trumps Redeweise über diejenigen an, die er schon oft als seine Feinde bezeichnet hat.
Trump-Bashing klärt nichts
Ich möchte es mir mit diesem Gebet nicht zu einfach machen. Schließlich ist Trump-Bashing hierzulande eine der leichtesten Übungen. Ich muss einsehen, dass ich nicht verstehen kann, wie Paula White zu diesem Gebet kommt, das Trump teilweise geradezu mit messianischer Würde ausstattet. Nicht verstehen bedeutet, dass ich mir auf Grund der mir zugänglichen Informationen durch gehobene Presse, die ich seit seinem Amtsantritt fast täglich minutiös verfolgt habe, kein ausreichendes Bild von dem machen kann, was in Amerika gerade passiert.
Was Trump zwitschert, wird bei uns reflexartig mit Entsetzen quittiert. Der Mann kann aber nicht alles falsch machen, sonst würde er in den Umfragen ja nicht so dastehen, wie es die Zahlen sagen. In manchen Fragen wie der Pflicht eines Staates zur Landesverteidigung sagt er in meinen Augen eindeutig Richtiges, was man hier aber nicht hören will – über anderes wie die Klimakrise meines Erachtens genauso eindeutig Falsches. Über die Folgen seiner Politik wird bisweilen Düsteres spekuliert und dann später kleinlaut das Gegenteil davon konstatiert. Er scheint für US-amerikanische Evangelikale, die sich (berechtigte!) Sorgen um ihre Religionsfreiheit machen, als Garant dafür zu gelten, dass sie ihren Glauben auf ihre Weise leben und öffentlich verkündigen können.
Für Deutsche dagegen ist er der absolute Anti-Held, der mit einem Bündel Eigenschaften, die bei uns komplett sozialunverträglich sind, eine Menge Unsicherheit in die Welt bringt (was Deutsche überhaupt nicht ausstehen können). Unsicherheiten, deren Effekt sich jeder Prognostik entzieht, aber die Möglichkeit offenlässt, dass sich daraus noch etwas Vernünftiges entwickeln könnte. Was diesem Unhold natürlich niemand in Deutschland und kaum jemand in Europa gönnen würde. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir über die tatsächlichen Effekte so wenig erfahren, sofern sie nicht der gängigen story line entsprechen, die die Leute hier gerne lesen möchten. Soweit zum Gesamtbild.
Was ich nicht verstehen kann
Ich gehe also von dem Fall aus, dass ich als Evangelikaler in Deutschland gar nicht verstehen kann, warum Evangelikale in den USA für Donald Trump in einer Weise beten können, die von einer göttlichen Berufung, wenn nicht gar einer göttlichen Sendung dieses Mannes spricht. Warum eine Pastorin die Position politischer Neutralität verlässt und in ihrem öffentlichen Gebet eindeutig für eine politische Partei Partei ergreift – und zwar so, dass der Unterschied zwischen einem Gebet und einer Walkampfrede phasenweise nicht mehr feststellbar ist.
Paula White sieht während dieses Gebetes, das sie abliest, die Leute an. Und die spenden Zwischenapplaus. Wirklich ein Gebet? Oder war das die Inszenierung eines Wahlappells in Form eines Gebetes?
Verhältnis Kirche-Staat überdenken
Nun sind wir Ähnliches von unserer Evangelischen Kirche seit Jahrzehnten gewohnt – deren Nähe zu den Bündnis 90/Grünen liegt seit vielen Jahren offen zu Tage. Bei uns hat das eine kulturell etwas andere Form, aber Gebete, die in Wahrheit politische Statements oder sogar Wahlempfehlungen sind, haben wir gerade auf den Kirchentagen zur Genüge genossen. Neu ist, dass dies unter umgekehrtem politischem Vorzeichen jetzt den Evangelikalen passiert.
Frage an Evangelikale: Ist das deshalb besser? Und an politisch linksbetende Mitchristen: Ist das deshalb schlechter? Oder präsentiert sich da ein viel grundsätzlicheres Problem – dass wir nämlich bei den Reformatoren dringend nochmal die Sache mit der Zwei-Reiche-Lehre nachlesen müssen? Wir erleben an verschiedenen Fronten im Protestantismus gerade eine „konstantinische Renaissance“, die an das von Kaiser Konstantin dem Großen begründete Staatskirchentum anknüpft.
Wir kennen diese bruchlose Identifikation mit (auch diktatorisch) Herrschenden seit vielen Jahrzehnten von den orthodoxen Kirchen. Heute verbinden sich auch protestantische Kirchen oder Bewegungen auf der Suche nach gesellschaftlichen Einflussmöglichkeiten mehr oder weniger einseitig mit politischen Parteien oder Personen. Dabei identifizieren sie eine parteipolitisch verengte und darum sehr begrenzte Sicht der „Welt“ bruchlos mit einer geistlichen Sichtweise.
Weltfremdheit ist angesagt
Die Sache hat aber einen Fehler: Wir sind als Christen nicht „von der Welt“ (Johannes 17)! Wir sind „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,19)! Es gibt zwischen dem weltweiten Leib Christi und der „Welt“ einen kategorialen Unterschied, und wo die Kirche den missachtet hat, hat das in der Kirchengeschichte immer zu Katastrophen geführt.
Wir Protestanten haben unsere Lehren aus der uns früher vorgeworfenen „Weltfremdheit“ offenbar ein wenig zu gut gelernt. Etwas weltfremder zu sein, fände ich für heute ziemlich angesagt. Dann wären die Evangelikalen in den USA wohl etwas befremdeter über Trumps Verhalten, das so gar nicht den „Früchten des Geistes“ (Galater 5,22) entspricht. Manch evangelischer Bischof wäre vielleicht etwas befremdeter über die gesellschaftliche Entsolidarisierung, die aus der „Gegen“-Polemik und dem Paternalismus im Namen gesellschaftlicher Randgruppen spricht.
Etwas Weltfremdheit würde den Evangelikalen in den USA oder auch in Brasilien oder auch denen, die sich hierzulande politische Unterstützung durch die AfD erhoffen, bewusst machen, dass die „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ sich auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums befinden und dass Christen mit jedem neuen Zugeständnis an „Welt“-Wüten (Galater 5,19–21) den Heiligen Geist dämpfen (1. Thessalonicher 5,19).
Es würde dem Kirchentagspräsidium bewusst machen, dass die „Gemeinschaft der Heiligen“ auch Christen in der AfD umfasst, und sich, wenn man schon dem Politischen eine derart große Bühne einräumen möchte, eine kirchliche Ausgrenzung (die evangelische Form der Exkommunikation) ganz grundsätzlich verbietet.
Wenn Christen in die Welt gezogen werden
Ja, ich habe mich aufgeregt, als ich das Gebet von Paula White gehört habe. Meines Erachtens hat sie den Namen Jesu öffentlich missbraucht und ihn sich parteipolitisch so zunutze gemacht, wie ein antiker Mensch das mit dem Namen eines Götzen gemacht hätte. Sie soll mir mal die Stelle zeigen, in der Jesus so wie sie für einen weltlichen Herrscher gebetet hat. Der „Gesalbte des Herrn“ ist nicht Trump, auch nicht in diesem Moment, sondern das ist nur Einer – der, in dessen Namen sie vorgibt zu beten. „Ich will meine Ehre keinem anderen geben noch meinen Ruhm den Götzen“, spricht der Herr (Jesaja 42,8).
Die Einheit der Christen, von der Jesus spricht (Johannes 17,20–23) umfasst nicht nur die Trump-Fans dort im Stadion, sondern auch die, die um Jesu willen zu den „Democrats“ gehören und auf dieses Gebet ihr „Amen“ ganz sicher nicht hätten sprechen können. Aber alle, die sich so wie ich darüber aufregen, möchte ich fragen, ob es sich besser angefühlen würde, wenn Paula White dasselbe Gebet zum Beispiel für Bernie Sanders gebetet hätte, oder für einen anderen, eben den eigenen Lieblingskandidaten.
Ich befürchte, dass viele Christen deutscher Landeskirchen damit kein Problem gehabt hätten, wenn sie nur für den „Richtigen“ gebetet hätte. Und genau das ist das Problem! Paula White führt uns vor Augen: Wir Christen, egal ob liberal, evangelikal oder sonstwie, werden auf allen Seiten des Politischen gerade in die Welt gezogen. Und von ihr verschluckt. Und verdaut. Und dann? Möchten wir da wirklich hin?
Für unsere Politiker beten
Wir haben den Auftrag von Gott, für alle Menschen zu beten, auch für unsere Politiker (1. Timotheus 2,1–4). Daran ist im Prinzip nichts Falsches. Aber wie können wir es anders machen als Paula White – so, dass das Gebet im Namen Jesu auch wirklich der Gesinnung Jesu entspricht? Mein Tipp: So, dass wir dasselbe Gebet auch für den parteipolitischen Gegner beten könnten. Als „Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“.
Dr. Gerrit Hohage ist Pfarrer in der Evangelischen Bonhoeffergemeinde Hemsbach und Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro.