Bescherung in bitterer Armut

Romafamilien zählen in Bulgarien zu den Ärmsten der Armen. pro hat ein Team von „Weihnachten im Schuhkarton“ nach Bulgarien begleitet und traf dabei auf Kinder, die dank dieser Aktion das erste Weihnachtsgeschenk ihres Lebens erhalten haben.
Von PRO
Viele Roma-Kinder in Bulgarien haben durch „Weihnachten im Schuhkarton“ zum ersten Mal ein Weihnachtsgeschenk erhalten

Schier endlos zieht die Landschaft an uns vorüber, während es langsam Abend wird. Weite Ebenen, in ocker und grün gehalten, reichen bis zum Horizont. Nur selten stoßen wir auf Spuren menschlicher Zivilisation, während wir von Sofia aus immer weiter nach Osten fahren. Noch überqueren wir das ärmste Land der EU auf unserem Weg nach Burgas auf einer perfekt ausgebauten Autobahn – Unionsfördermittel, versteht sich. Später wird die Strecke für den Fahrer zu einem Hindernislauf um die Schlaglöcher.

Zwei Tage lang besucht ein Team von größtenteils ehrenamtlichen Mitarbeitern der Aktion „Weihnachten im Schuhkarton“, die zum christlichen Hilfswerk „Geschenke der Hoffnung“ gehört, den Osten Bulgariens und trifft dabei die Ärmsten der Armen. Jahr für Jahr packen Spender aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mehrere hundertausend Päckchen, um Kindern aus jämmerlichen Verhältnissen in Osteuropa wenigstens einmal im Leben ein Weihnachtsgeschenk zu ermöglichen. Mit im Bunde sind neben zehn Ehrenamtlichen die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter Lydia Richter und Rainer Saga.

Mit auf der Reise: Natascha Kristandl (25) und Jonathan Brieskorn (24), die ehrenamtlich einen Sammelpunkt im Schwarzwald leiten Foto: Raffael Reithofer
Mit auf der Reise: Natascha Kristandl (25) und Jonathan Brieskorn (24), die ehrenamtlich einen Sammelpunkt im Schwarzwald leiten

Bevor wir unser Ziel – die Stadt Burgas am Schwarzen Meer – endlich erreichen, durchqueren wir fast ganz Bulgarien der Länge nach. Am Steuer des Neunsitzers räsoniert Saga über Reichtum und Armut: „Vieles von dem, was wir als notwendig erachten, brauchen wir eigentlich gar nicht.“ Jenen Kindern, die uns auf unserer Reise begegnen werden, fehlt es am Notwendigen: an warmer Kleidung, an Schuhen und an fließendem Wasser. Zwei Slums, in denen bulgarische Romafamilien wohnen, werden wir nebst einer Schule, einem Kindergarten, einem Krankenhaus und einem Waisenhaus auf unserer Reise besuchen. Das Vorrecht, dass wir nach unserem Besuch wieder in unser schönes Hotel zurückkehren können, während die Roma in ihren trostlosen Slums bleiben müssen, stimmt uns dabei nachdenklich.

Freudentränen in der Gesamtschule

Nebel und Sonne wechseln einander ab, als wir am nächsten Morgen im Konvoi mit einem bulgarischen Partnerteam von der Regionalhauptstadt Burgas aus immer tiefer in die Provinz fahren. Auf der Fahrt begegnen uns Autos, die in Deutschland schon längst verschrottet worden wären – und ab und an kommt uns sogar noch ein Pferdefuhrwerk entgegen. Die Dörfer, die wir auf unserer Reise durchfahren, wirken trist und geradezu verwahrlost. Hier hat man andere Sorgen als den Außenanstrich.

Vor dem nüchternen Zweckbau rosten kaputte Spielgeräte vor sich hin, auch der Kindergarten im abgelegenen Dorf Orlintsi wirkt von außen nicht gerade einladend. Innen wartet eine Überraschung: Wir werden von den Pädgoginnen in einen hellen und mit einfachen Mitteln liebevoll gestalteten Gruppenraum geführt, wo uns ein gutes Dutzend aufgeweckter Kinder erwartet. „Wir möchten euch mitteilen, dass ihr geliebt seid“, sagt Saga in einer kleinen Ansprache zu den Kindern. Ihm ist es wichtig, den kleinen Jungen und Mädchen zu vermitteln, dass sie etwas erreichen können, „egal was ihr Umfeld sagt“. Gespannt hören die Kleinen zu, als ihnen Peter Petrov eine kindgerechte Version der Weihnachtsgeschichte erzählt. Der Pastor der örtlichen Gemeinde koordiniert die Organisation in Ostbulgarien und ist zusammen mit Bulgarienkoordinator Zhelyo Zhelev, Übersetzerin Gabie Gencheva und Logistikkoordinator Nikolay Nikolov immer an unserer Seite.

Viele Romakinder wachsen in bitterarmen Verhältnissen auf Foto: Sina Gasser
Viele Romakinder wachsen in bitterarmen Verhältnissen auf

Der Höhepunkt unseres Besuchs ist die Verteilung der Päckchen: Jedes der Kinder bekommt einen Schuhkarton voll neuer Spielsachen, Bekleidungsstücke und Süßigkeiten. Spender aus Deutschland und Österreich haben sie gepackt. Dass Mitarbeiter aus diesen Ländern die Päckchen an bedürftige Kinder verteilen, ist eine Ausnahme. Üblicherweise gehen die Schuhkarton-Päckchen an lokale Kirchengemeinden. Diese haben den Auftrag, die Verteilung der Päckchen als Türöffner zu nutzen, um den empfangenden Kindern die gute Botschaft von Jesus Christus zu verkündigen und längerfristige Beziehungen zu ihnen und ihren Familien zu pflegen. Den Kleinen ist es einerlei, von wem sie die Pakete bekommen. Sie strahlen vor Freude, als sie ihre Geschenke entgegennehmen. Die meisten machen ihre Päckchen gleich auf, um ihre neuen Spielsachen zu begutachten, ein kleines Mädchen aber verwahrt ihren geschlossenen Karton wie einen Schatz.

Weihnachtsgeschenke für Roma-Kinder

Im Schein der Vormittagssonne braucht man nicht einmal eine Jacke – kaum würde man erahnen, dass Advent ist. Drinnen aber kommt weihnachtliche Stimmung auf. Funkelnde Girlanden und bunte Lichterketten zieren die Halle, in der vier zwölfjährige Mädchen auf Bulgarisch und Englisch „Stille Nacht“ singen – in Jeans und mit Santa-Mützen. Wir sind mitten in der weihnachtlichen Schulaufführung der Gesamtschule Vasil Levski am ländlich geprägten Stadtrand von Burgas gelandet, in der Kinder bis 14 Jahren unterrichtet werden – fast ausschließlich Roma. Innerhalb Bulgariens gehen etwa 70 Prozent der Roma-Kinder zur Schule, schätzt Übersetzerin Gabie Gencheva, die selbst unterrichtet. Viele jener Schüler brechen die Schule aber nach der vierten Klasse ab, erklärt sie: „Der Staat tut ziemlich viel, um diese Kinder in die Schule zu bringen.“ Die Eltern sieht sie als treibende Kräfte dafür, dass einige Kinder letztlich doch nicht zur Schule gehen.

Als die Jungen und Mädchen schließlich in ihren Klassen die Geschenke erhalten, fließen Freudentränen. Und zwar nicht nur bei den Schülern, auch die Lehrerinnen freuen sich mit. Bevor wir gehen, sagt ein Mädchen leise „Thank you“. Manche der Kinder haben das erste Weihnachtsgeschenk ihres Lebens erhalten.

Der jämmerliche Anblick der Armut

Inzwischen ist es Abend geworden. Im Hintergrund ertönt Hundegebell, während wir große Pappkartons voller Geschenke im Fußmarsch eine Straße entlang schleppen, die die Bezeichnung „Straße“ kaum verdient. Die Siedlung, in der wir uns nun befinden, wird von Einheimischen einfach nur „der Wald“ genannt, auf Bulgarisch „Gorata“. Etwa fünfzig Romafamilien leben hier in Hütten, eine schäbiger als die andere. Eine davon ist das Zuhause einer Kleinfamilie: Vater, Mutter und Sohn leben hier auf nicht einmal 20 Quadratmetern. Eine kleine Weihnachtsdekoration ziert die armselige Behausung.

Die Schüler der Gesamtschule „Vasil Levski“, die nach einem bulgarischen Volkshelden benannt ist, freuen sich riesig über den Besuch aus Deutschland und Österreich Foto: Raffael Reithofer
Die Schüler der Gesamtschule „Vasil Levski“, die nach einem bulgarischen Volkshelden benannt ist, freuen sich riesig über den Besuch aus Deutschland und Österreich

Als sich eine Kuhherde gemächlich mitten durch die am Waldesrand gelegene Siedlung bewegt, treffen wir auf die wohl ärmste Bewohnerin: In einer winzigen, kaputten Hütte lebt eine vielleicht dreißigjährige, schwangere Frau mit drei kleinen, abgemagerten Kindern, die barfuß im Dreck stehen. Ein Anblick, der es uns schwer macht, die richtigen Worte zu finden. Und auch wenn sich die Kleinen riesig über die Geschenke freuen, ist klar: Wir werden ihnen und ihrer Mutter damit nicht nachhaltig helfen. Allgemein ist „Weihnachten im Schuhkarton“ nicht als Entwicklungshilfe gedacht, sondern soll dazu dienen, armen Kindern einmal im Leben mit einem großen Weihnachtsgeschenk eine Freude zu machen und ihnen die Botschaft von Jesus Christus zu verkündigen.

Aufruhr in der Romasiedlung

Öffentliche Einrichtungen haben den Vorteil, dass die Verteilung der Schuhkartons geordnet ablaufen kann, dafür sorgen auch die jeweiligen Mitarbeiter, seien es Lehrer oder Krankenschwestern. Anders stellt sich die Situation in einer Romasiedlung dar. Noch dazu in einer ganz großen, unübersichtlichen und besonders armen. Diese Prädikate treffen auf die Roma-siedlung in der Mittelstadt Yambol zu, unserem letzten Ziel am diesem Nachmittag. Dutzende notdürftig gebaute Hütten reihen sich hier aneinander. Die besseren sind gemauert, die schlechteren bestehen aus Holz- und Wellblechplatten. Die schäbigsten sind bloß ein Gerüst mit Vorhängen, die die Außenmauern ersetzen. Anfangs werden wir freudig begrüßt, vor allem von den Kindern, die unbedingt Fotos mit uns machen wollen. Als es aber zur Verteilung der Geschenke kommt, wendet sich das Blatt. Um zu verhindern, dass sich manche Kinder zweimal anstellen, möchten wir mit den Päckchen von Haus zu Haus gehen. Einige Bewohner aber weigern sich, in ihre Häuser zu gehen. Sie haben wohl Angst, übersehen zu werden. Nun schwenkt die Stimmung um, aus der Freude der Kinder wird Wut bei den Erwachsenen. Eltern und Großeltern werden immer aggressiver, eine Bewohnerin wirft einen Stein aus ihrem Haus. Schließlich müssen wir die Verteilung der Geschenke abbrechen und eilen zurück zu den Autos.

Ein Junge aus der Romasiedlung „Gorata“ im Osten Bulgariens freut sich über sein Weihnachtsgeschenk Foto: Raffael Reithofer
Ein Junge aus der Romasiedlung „Gorata“ im Osten Bulgariens freut sich über sein Weihnachtsgeschenk

„Ich hätte nicht gedacht, dass das passiert“, meint Bulgarienkoordinator Zhelyo Zhelev in der Abschlussbesprechung. Inzwischen ist es Samstagabend, wir sind zurück in unserem Hotel, die übrig gebliebenen Geschenke haben wir in einer anderen Siedlung verteilt. „Unsere Partner werden die Verteilung fortsetzen und die Päckchen an jene Familien verteilen, die keine erhalten haben. Wir geben nie auf und möchten dorthin gehen, wohin sonst niemand gehen will“, sagt Zhelev zum Abschluss. Insgesamt haben in Bulgarien vergangenes Jahr knapp 15.000 Kinder ein Päckchen über die Organisation „Geschenke der Hoffnung“ erhalten. Die bittere Armut, die aufgeheizte Stimmung am zweiten Tag, aber auch die vielen freudestrahlenden Kinderaugen bleiben unvergessen.

Dieser Text erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe 6/2018 des Christlichen Medienmagazins pro. Bestellen Sie pro hier kostenlos.

Von: Raffael Reithofer

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