Brasilien vor der Wahl: Ein gespaltenes Land

Das größte lateinamerikanische Land steht kurz vor den Präsidentschaftswahlen und das politische Klima im Land ist aufgeheizt. Die Gesellschaft ist gespalten. Vieles erinnert an die US-Präsidentschaftswahl 2016. Doch das Land hat weit größere Probleme.
Von PRO
Der rechtskonservative Jair Bolsano und der linke Fernando Haddad (v.l.) sind die aussichtsreichsten Kandidaten bei der Wahl um das Präsidentenamt in Brasilien

Mehr als 145 Millionen Brasilianer sind am kommenden Sonntag aufgerufen, ihre Stimmen abzugeben. Neben dem Präsidenten wird auch ein neuer Kongress gewählt. Der Gang an die Wahlurne ist verpflichtend, andernfalls drohen Geldstrafen sowie die Verweigerung der Ausstellung von Ausweisdokumenten. 13 Kandidaten gehen ins Rennen um das höchste Amt in dem lateinamerikanischen Staat. Aktuellen Umfragen zufolge liegen der rechte Ex-Militär Jair Bolsonaro und der ehemalige linke Stadtpräfekt von São Paulo Fernando Haddad in der Wählergunst vorne. An den Kandidaten spaltet sich das Land.

Sprachrohr eines verurteilten Ex-Präsidenten

Der libanesisch-orthodoxe Christ Haddad, Sohn einer Einwandererfamilie, tritt für den wegen Korruption und Geldwäsche verurteilten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und dessen Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) an. Vorausgegangen war Lulas Kandidatur, die Anfang September wegen seiner Verurteilung vom obersten Wahlgericht abgelehnt wurde. Seiner Popularität im Volk schadet die verhängte zwölfjährige Haftstrafe, die er im April antrat, keineswegs: Aus dem Gefängnis heraus hatte er seine Anhänger mobilisiert und noch im letzten Moment Haddad als seinen Vertreter nachnominiert.

Das Haddad-Lula-Bündnis steht für eine restriktivere Wirtschaftspolitik, befürwortet mehr Verstaatlichungen. Angesichts der aktuell angespannten wirtschaftlichen Lages des Landes sehen Marktanalysten das kritisch. Bildungspolitisch möchte der Kandidat unter anderem auch die sexuelle Vielfalt unter Kindern fördern, was ihn für viele konservative Christen im Land nicht wählbar macht.

Evangelikale unterstützen rechten Hardliner

Die Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung ist katholisch geprägt, doch die Protestanten gewinnen immer mehr an Einfluss. Ein Drittel der Gesellschaft bezeichnet sich mittlerweile selbst als evangelikal. Der Ex-Militärangehörige und rechtsgerichtete Präsidentschaftsbewerber Bolsonaro gehört zwar der Katholischen Kirche an, hat sich aber von einem Pfingstpastor taufen lassen und besucht seit Jahren die baptistische Kirche seiner Frau. Er weiß um die Unterstützung auch vieler einflussreicher Pastoren. Gerade weil er als einer der aussichtsreichsten Kandidaten konservative Themen wie die Stärkung der Familie bedient. Inwieweit seine Politik aber christlich geprägt sein soll, gibt stellenweise Rätsel auf.

Während der bisher eher unbekannte Haddad als Sprachrohr Lulas gilt und kaum eigenes Profil zeigt, fällt Bolsonaro mit polemischen und beleidigenden Entgleisungen auf. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im vergangenen Jahr erklärte er, er habe fünf Kinder, vier davon seien Söhne, nur das letzte Kind sei mit einer Schwäche zur Welt gekommen – als Mädchen. Zudem gab er in einem Interview an, lieber einen toten als einen schwulen Sohn haben zu wollen. Eine Abgeordnete der linken Arbeiterpartei, die ihn einen Vergewaltiger nannte, bezeichnete er als Hure und entgegnete ihr, sie habe es nicht verdient, von ihm vergewaltigt zu werden. Als er dies in einem Interview wiederholte, verurteilte ihn ein Gericht zu einer Geldstrafe.

Bolsonaro ist kein Neuling in der Politik, seit 1991 sitzt er im Abgeordnetenhaus, wechselte aber mehrfach die Partei. Seine politischen Forderungen polarisieren: Polizisten sollten das Recht bekommen, Kriminelle ohne Prozess zu erschießen, forderte er jüngst. Auch sollte jeder Brasilianer das Recht bekommen, eine Waffe zu tragen, um sich selbst zu verteidigen. Er rühmt öffentlich die Militärdiktatur und befürwortet Folter.

Der 63-Jährige, der unlängst Opfer einer Messerattacke wurde, vergleicht sich selbst mit US-Präsident Trump und setzt wie dieser auf die sozialen Netzwerke, um Anhänger zu mobilisieren. Auf Facebook hat er rund 6,6 Millionen Follower, Haddad kommt gerade einmal auf rund 647.000 (Stand: 01.10.2018). Zahlreiche Falschmeldungen kursieren im Internet und erschweren es den Wahlberechtigten, sich ein objektives Bild zu machen.

Gespaltene Gesellschaft

An Haddad und Bolsonaro scheiden sich die Geister. Längst geht es im Wahlkampf nicht mehr darum, mit Inhalten zu überzeugen. Genug andere Kandidaten gibt es, aber die Mehrheit der Gesellschaft sieht keine andere Möglichkeit, als zwischen den beiden aussichtsreichsten Kandidaten zu entscheiden – um den jeweils anderen und dessen politische Agenda zu verhindern. Das Szenario, dass der verlängerte Arm eines verurteilten linken Ex-Präsidenten oder ein rechter Hardliner und Polemiker Präsident werden könne, treibt die Gesellschaft in zwei Lager. Pro Haddad oder pro Bolsonaro. An dieser Frage zerbrechen dieser Tage Freundschaften und zerstreiten sich Familien.

Beide Kandidaten versprechen, Brasilien aus der Krise zu führen. Konkrete Lösungsansätze bleiben sie aber schuldig. Dabei sind die Probleme des Landes akut: Die Wirtschaft schwächelt, benötigte Reformen werden nicht umgesetzt, die Arbeitslosenquote stieg auf rund 13 Prozent. Dringend notwendige Investitionen in Bildung, Sicherheit und Gesundheit fielen in den vergangenen Jahren Großereignissen wie Olympia und der Fußballweltmeisterschaft zum Opfer. Rund 45 Prozent des Staatshaushaltes machen allein die Sozialversicherungsausgaben aus, da bleibt für viele andere Ressorts nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

Auch um die innere Sicherheit ist es schlecht bestellt: Allein 63.880 Morde gehen im vergangenen Jahr auf das Konto von Kriminellen, ganze Stadtteile werden in São Paulo und Rio de Janeiro von Drogenkartellen beherrscht. Hinzu kommen immer neuere Korruptionsskandale, in die Politiker verwickelt sind. Aktuell steht mehr als die Hälfte der Kongressabgeordneten aller politischen Richtungen unter Korruptionsverdacht.

Doch nicht nur dies sind Herausforderungen für den kommenden Präsidenten: Schon lange gestaltet es sich als schwierig, in der zersplitterten Parteienlandschaft Brasiliens, nötige Mehrheiten im Kongress zu finden. Aktuell sind 27 Parteien vertreten, zur Wahl stehen am Samstag 35. Sollte keiner der Präsidentschaftskandidaten am kommenden Samstag die absolute Mehrheit erreichen – was als sicher gilt –, kommt es am 27. Oktober zur Stichwahl zwischen den beiden Bestplatzierten. Turbulente Zeiten also im größten lateinamerikanischen Land. Doch die wahren Probleme warten erst noch darauf, gelöst zu werden – nach der Wahl.

Von: Fabian Reinhardt

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