Der Bürgerkrieg in Syrien geht in das sechste Jahr. Millionen Menschen sind deshalb auf der Flucht – nicht nur nach Europa: Das kleine Nachbarland Libanon hat über eine Million Syrer aufgenommen. Die leben zum Teil auf Baustellen und in Zelten. Vom Staat bekommen sie nichts.
Wer sich von den syrischen Flüchtlingen im Libanon keine feste Unterkunft leisten kann, mietet sich ein Stück Land für ein Zelt
Wafaa sitzt auf einer Matratze auf dem Boden ihrer Wohnung, schwarzes Kopftuch, hellblaue Jeans, darüber ein grau-brauner Mantel. Eine Stoffgardine, die hinter ihr an der unverputzten Wand herunterhängt, versucht dem Raum so etwas wie Wohnlichkeit zu vermitteln. Ebenso die Plastikblumen, die an der grauen Ziegelmauer gegenüber hinter einer Nylonschnur klemmen. Eines ihrer Kinder versucht, die abstehende Ecke eines Teppichs wieder am Boden festzukleben. Doch der Klebestreifen hält auf dem nackten Beton nicht. Die 35-Jährige wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, als sie davon erzählt, wie ihr Mann in Syrien bei einem Bombenangriff zerfetzt wurde, sodass man seine Leiche kaum mehr identifizieren konnte. Auf Drängen ihrer Schwester floh sie mit ihren Kindern in den Libanon.
Seit über zwei Jahren wohnt sie hier auf etwa 20 Quadratmetern in einem dreigeschossigen Haus, das über den Rohbau nicht hinaus gekommen ist und noch sechs weitere Familien beherbergt. Anfangs verdeckten nur Planen die Öffnung in der Wand, die ins Freie auf den schmalen Balkon führt. „Es fühlte sich an, als säße man draußen“, sagt Wafaa. Besonders im Winter, der hier auch Minusgrade erreicht, war das hart. Da half auch der kleine Ölofen nichts, der im Zimmer steht. Vor sechs Monaten hat die Hilfsorganisation „Medair“ Fenster und Tür eingesetzt. Der Hauseigentümer erlässt der jungen Frau die Miete, weil sie als Witwe ohne Einkommen für sechs Kinder zwischen drei und fünfzehn Jahren sorgen muss. Die ältesten Söhne arbeiten ab und zu in einer Tischlerei und bringen 6.000 Libanesische Pfund in der Woche mit nach Hause. Das sind umgerechnet rund 3,50 Euro.
Die Bomber dröhnen noch im Kopf
Über eine Million Syrer flohen vor dem Bürgerkrieg in ihrem Land in den Libanon. Das südwestliche Nachbarland am Mittelmeer ist halb so groß wie Hessen und hat rund vier Millionen Einwohner. Als der Krieg 2011 in Syrien ausbrach, haben viele Libanesen Flüchtlinge privat aufgenommen, mitunter die Syrer, bei denen sie selbst schon einmal während des libanesischen Bürgerkrieges untergekommen waren. Andere leben zur Miete in Garagen, Ställen, Rohbauten – oder in Zelten.
So wie Saeed. Seit drei Jahren. Er ist 33, sieht aus wie Anfang 40, so wie überhaupt viele der Flüchtlinge älter wirken, als sie sind. In Idlib, im Nordwesten Syriens, hatte er sich ein Haus gebaut. Als er fertig war, fielen die Bomben und er floh mit seiner Frau und den drei Kindern, eines von ihnen erst wenige Monate alt. Die beiden älteren Söhne, die heute acht und zehn Jahre alt sind, erinnern sich noch an das Brummen der Flugzeuge, die in der Nacht über ihr Haus flogen; daran, wie die Eltern sie aus dem Bett holten und mit ihnen ins Nachbarhaus rannten, um dort Schutz zu suchen. Das Zelt, in dem die Familie jetzt lebt, ist etwa acht mal vier Meter groß, Kunststoffplanen sind über ein Gerüst aus Holzlatten gespannt, der Boden zu einer ebenen Fläche betoniert. Daneben eine Latrine, immerhin mit einer im Zementboden eingelassenen Toilettenschüssel und Wellblechverschlag – installiert von einer Hilfsorganisation. Die Abwässer laufen ins Feld.
Legal ist zu teuer
Ein Traktor mit Tankanhänger arbeitet sich rückwärts durch die Unebenheiten des eingetrockneten Schlammbodens in der kleinen Zeltsiedlung, in der Saeed lebt. Er bringt Trinkwasser, das in einen 1.000-Liter-Behälter gepumpt wird. Das reicht zehn Tage für Saeed und seine Familie. Dafür, dass sie auf privatem Land wohnen, müssen sie jedes Jahr 170 Dollar bezahlen. Wie auch an den anderen der gut zehn Zelte in dieser Siedlung am Rande eines Ackers hängt draußen eine Satellitenschüssel. Drinnen laufen gerade die „Ninja Turtles“ im Fernsehen, das dürfen die Kinder anschauen. Vor einem Dreivierteljahr bekam die Familie noch eine Tochter. Saeed stellt sie auf seinen Schoß und seine Augen beginnen zu leuchten. Seine Frau serviert Tee. „Ich hoffe, dass sich die Lage beruhigt und wir zurückgehen können“, sagt Saeed. Er habe im Libanon bessere Lebensbedingungen als in seiner Heimat erwartet, aber die Realität sehe anders aus.
Die Siedlung mit den knapp zwanzig Zelten verlässt er kaum. Denn er ist illegal im Land und hat Angst, an einem der Checkpoints erwischt und verhaftet zu werden. 2015 machte die libanesische Regierung die Grenze zu Syrien dicht. Zwar kann man mit Visum oder syrischem Nationalpass einreisen, muss aber den Grund und Zweck des Besuchs im Libanon darlegen und dokumentieren. Wer bereits im Land ist, muss sein Aufenthaltsvisum jedes Jahr verlängern. Die 200 Dollar dafür kann sich Saeed nicht leisten, wie die meisten Flüchtlinge. Schätzungen zufolge halten sich wegen der verschärften Visa-Richtlinien drei Viertel der syrischen Flüchtlinge illegal im Libanon auf.
Nur keine Probleme machen
Je nach Größe leben in Zeltsiedlungen eine Handvoll oder auch über hundert syrische Flüchtlinge. Es entwickelt sich auch eine Art Gemeinwesen. Es gibt einen Vorsteher, den Shaweesh, der die Anliegen der Bewohner und den Kontakt zu Hilfsorganisationen und dem Landbesitzer koordiniert. Die Bewohner besuchen sich, man feiert zusammen Verlobungen, Hochzeiten, das Fastenbrechen im Ramadan. Das Leben scheint eine gewisse Normalität angenommen zu haben. Doch Saeed sagt: „Jede Familie hier trägt ihr eigenes Leid und ihre Sorgen. Wir sind alle hoffnungslos, wir können uns nicht gegenseitig helfen.“ Kontakt zur einheimischen Bevölkerung gibt es kaum. „Wir bleiben lieber unter uns, damit wir nichts falsch machen und keine Probleme bekommen“, erklärt ein anderer.
Diese Sorge teilt auch Ali Mohamad Yasser, Shaweesh einer Siedlung mit 30 Zelten und 200 Bewohnern und Vater von 14 Kindern. Seiner Meinung nach gibt es zwei Gruppen von Libanesen: diejenigen, die helfen und den Flüchtlingen wohlgesinnt sind; und diejenigen, die meinten, sie seien etwas Besseres. Er befürchtet, dass alle Flüchtlinge beschuldigt werden, wenn sich ein Syrer im Gastland falsch verhält. Konkret weiß er aber von keinem solchen Vorkommnis. Negative Erfahrungen hat er aber schon gemacht. Die Siedlung, in der er zuvor lebte, wurde geräumt, nachdem die Bewohner die Miete für ein Jahr im Voraus bezahlt hatten, erzählt er. Nichtsdestotrotz versäumt er es nicht, seine Dankbarkeit darüber zu äußern, dass der Libanon eine so große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen hat.
Etwa die Hälfte der registrierten syrischen Flüchtlinge ist unter 18 Jahren alt. Die UNO ermöglicht 200.000 kostenlose Plätze für syrische Kinder an öffentlichen libanesischen Schulen. In der Regel haben die Einheimischen am Vormittag Unterricht, die Syrer nachmittags. Doch ausgeschöpft sind die Plätze nicht. Denn der Transport von der Siedlung zur Schule kann im Monat je nach Entfernung schon mal 25 Dollar pro Kind kosten. Das übersteigt die Ressourcen so mancher Flüchtlinge.
Eine Last für die Kommunen
Die Bekaa-Ebene erstreckt sich von Nord nach Süd zwischen dem Libanongebirge und dem Antilibanon, dem Gebirgszug, der die Grenze zu Syrien bildet. Diese Ebene ist sehr fruchtbar, die Menschen hier leben vor allem von der Landwirtschaft. Sie bauen Wein an, aber auch Oliven und anderes Obst und Gemüse. Syrer sind die billigeren Arbeitskräfte. Wegen dieser Konkurrenz finden es manche Libanesen auch gut, dass es syrischen Flüchtlingen zumindest offiziell verboten ist, zu arbeiten. Trotzdem bekommen sie immer mal wieder Gelegenheitsjobs auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Vor allem syrische Frauen arbeiten auf den Feldern desjenigen, auf dessen Land sie ihr Zelt aufgeschlagen haben.
Der Anteil syrischer Flüchtlinge an der Gesamtbevölkerung ist in der Bekaa-Ebene mit etwa 50 Prozent besonders hoch. In manchen Orten leben sogar mehr Ausländer als Einheimische, wie im 5.000-Seelen-Dorf Hosh Harimi, 15 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Vor zwei Jahren hatten sich hier 12.000 Flüchtlinge niedergelassen, erzählt der kommissarische Bürgermeister Abdelfatah Amad. Mittlerweile sind es noch 7.000. Die Kommune ächzt unter den vielen Menschen. Vor allem hinsichtlich der Versorgung mit Strom, Wasser und anderen Ressourcen sei die Belastung spürbar, sagt Amad. Auch der Müll und die Beeinträchtigung des Bodens durch die Zeltsiedlungen seien ein Problem. Der Rathauschef schätzt, dass es bis zu zwanzig Jahre dauern könnte, bis sich der Boden an diesen Orten regeneriert hat. Aber von Spannungen in der einheimischen Bevölkerung will Amad nichts wissen. Es sei einer der wenigen Orte, wo es keine Konflikte gebe, sagt er über sein Dorf. Dazu habe auch die Unterstützung von Hilfsorganisationen beigetragen.
Nobelpreis für Angela Merkel
Ein paar Kilometer weiter schmiegt sich das Dorf Dakwi an die auslaufenden Hänge des Antilibanon. Die Kirche steht direkt gegenüber der Moschee, am Ortsrand leuchten die weißen Zelte der Flüchtlinge in der Mittagssonne. Auf dem Hügel hinter der Zeltsiedlung wachsen zwischen den rotbraunen, zerklüfteten Felsen einige Olivenbäume. Der Blick reicht über die Weite der Bekaa-Ebene bis zu den Gipfeln der gegenüberliegenden Berge, auf denen der Schnee schimmert.
Vor einem der Zelte sitzen Frauen und Kinder auf Plastikstühlen und halten einen Plausch. An einer Leine, die zwischen zwei in die Erde gerammten Pflöcken gespannt ist, flattert Kleidung zum Trocknen im Wind. Einige der Bewohner haben Kanister mit Erde gefüllt und darin Rosen und Kräuter angepflanzt. Bei anderen wachsen auf einem schmalen Streifen Erde vor dem Zelt Zwiebelröhrchen. An der Straße tollen Kinder mit ihren Rucksäcken herum. Sie sind auf dem Weg in die Schule. Als sie Europäer mit Fotoapparaten sehen, drängen sich alle vor die Linse, um gleich darauf das Foto auf dem Display zu begutachten. Die Hilfsorganisation „Medair“ hat hier Schotter auf den Wegen zwischen den Zelten aufgeschüttet. So versinkt die Siedlung nicht im Schlamm, wenn es regnet.
Die Szenerie wirkt beinahe idyllisch, erinnert an einen Campingplatz – stünden nicht die traurigen Schicksale dahinter. Hamad ist 22, Brille, weißes Hemd, beige Stoffhose und Weste, das Haar gegelt. Den Akademiker sieht man ihm an. In Syrien stand er kurz vor dem Examen seines Ingenieurstudiums, als er vor dem Krieg floh. Eigentlich heißt er anders, aber er will seinen Namen ebenso wie sein Foto nicht in einer Zeitschrift wissen, erklärt er und deutet mit einer Handbewegung an: „Kopf ab“. Er lebt mit seinen Eltern, drei Schwestern, drei Brüdern, zwei Schwägerinnen und zwei Babys in einem Drei-Zimmer-Zelt. Die halbe Familie ist dabei, als die Journalisten Fragen stellen. Alle sitzen auf Matratzen auf dem Boden, der mit einem Teppich ausgelegt ist. In der Mitte des Raumes steht ein Ölofen, in der Ecke hat der Fernseher seinen Platz. Es gibt heißen, süßen Tee. Die Zeltplanen rascheln und bewegen sich leicht im Wind.
Wenn Hamad Geld hätte, würde er nach Deutschland gehen. „Es ist der Himmel auf Erden“, sagt er. Was er im Fernsehen von Deutschland gesehen habe, sei wundervoll. „Wir lieben dich, Angela Merkel“, sagt er. Dafür, dass sie so warmherzig sei und sich um syrische Flüchtlinge kümmere, verdiene sie den Nobelpreis. Er stellt viele Fragen an die Gäste aus seinem Traumland. Warum macht Frau Merkel das? Warum braucht er als Syrer für Europa kein Visum, aber für arabische Länder? Auch über Facebook hörten er und seine Brüder fast nur Gutes über Deutschland. Dass geflüchtete junge Männer ebenso wie Familien oft in Massenunterkünften leben, hat er noch nicht gewusst. Sein Wunsch ist, eines Tages nach Syrien zurückzugehen, seinen Abschluss an der Uni zu machen und dann dabei zu helfen, sein Land wieder aufzubauen. Aber seine Hoffnung auf eine Perspektive in der Heimat ist gering. (pro)
Der Beitrag entstand im Rahmen einer EU-finanzierten Journalistenreise der christlichen Hilfsorganisation „Medair“. Diese leistet sowohl im Libanon als auch in Jordanien, Syrien und im Irak humanitäre Hilfe für syrische Flüchtlinge.
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