Was für ein Auf und Ab der Nachrichten seit dem schrecklichen LKW-Anschlag am Montagabend in meiner Stadt Berlin! Eilmeldungen, Nachrichten, Fotos, Deutungen und Vermutungen. Sehr hilfreich waren die Meldungen der Berliner Polizei in den sozialen Medien. Dann das Hin und Her über mögliche Tatverdächtige, der Fahndungsaufruf. Auch ich habe am Montagabend zuerst auf Facebook mit dem „Pray for Berlin“ unter dem Bild des segnenden Christus aus der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche reagiert.
„Berlin ist im Herzen getroffen“ hat jemand am nächsten Tag auf ein Schild an der Gedächtniskirche geschrieben. Stimmt, denke ich mit vielen anderen aus meiner Stadt. Im übertragenen Sinn wie im geografischen. Denn dieser Ort ist das eine der beiden Stadtzentren, hoch symbolisch und weltbekannt mit dem Kirchen-Ensemble mittendrin. Die Schneise der Verwüstung durch den Weihnachtsmarkt liegt rund 30 Meter hinter dem Anbau der Kirche, dem früheren „FOYER an der Gedächtniskirche“.
Das war mein Dienstort von 1988 bis 2002. Als Verantwortlicher der dort ansässigen Missionarischen Dienste der Evangelischen Kirche konnte ich mit dem Team die Botschaft vom Menschen liebenden und rettenden Gott weitergeben: den Touristen und Junkies, den Orientierungs- und Obdachlosen, den Suchenden und Satten. Die drei täglichen Kurzandachten in der Kirche, Wochengottesdienste, Aktionen auf dem Platz, genauso wie Seelsorge und soziale Beratung, boten dazu Gelegenheit. Wir haben damals die Kirchenführungen begonnen. Die Mosaiken und Reliefs der Gedenkhalle im Turm, eine bewusst belassene Kriegsruine, erzählen die unselige Geschichte des Kaisertums, das Gott und Kirche für Kriege und Siege in Anspruch nahm. Im Kontrast dazu flankieren die Versöhnungskreuze aus Coventry und Wolgograd die beschädigte Jesus-Figur aus der zerstörten Kirche. Gegenüber die neue Kirche im meditativen Blau der Glasfenster, allein konzentriert auf die goldene Figur des segnenden Christus über dem Altar – gerade in diesen Tagen unzählige Male abgebildet. Christus allein! Alte und neue Kirche sind an diesem Ort das Mahnmal gegen Krieg und Gewalt. Noch mehr aber sind sie das Mahnmal für Versöhnung und Frieden, sowohl zwischen den Völkern und als auch zwischen Mensch und Gott.
Jesus ist am Anschlagsort präsent
Ob der wahrscheinliche Attentäter von dieser geistlichen und geschichtlichen Symbolik wusste? Wir werden es vielleicht nie erfahren. Das vereinte Berlin ist gerade an diesem Symbolort der Versöhnung besonders getroffen. Und ist damit nicht auch unser Glaube an diesen Friedensbringer und Versöhner Jesus getroffen? Wer den schwebenden Christus genau anschaut, entdeckt an seinen Händen und Füßen die Nägelmale des Gekreuzigten. Was gegen ihn gerichtet ist, das hat er bereits mit ans Kreuz genommen. Was gegen uns, die ihm nachfolgen, gerichtet sein mag, dürfen wir ihm getrost aufladen – und so selber Trost in allem Leid und Frieden in aller Unruhe empfangen. Weil der für uns leidende und gekreuzigte Christus mitten im Leid des Weihnachtsmarkt-Anschlags präsent ist (optisch wie real), gibt es Hoffnung über das entsetzliche Geschehen hinaus.
Haben wir als glaubende Christen nach diesem Anschlag mitten im Herzen der Hauptstadt auch Angst? Ja, aber noch größer als die Angst ist die Kraft von Hoffnung und Liebe. Die Skulptur des gekreuzigten Gottessohns, der heute als der Lebendige die Schöpfung regiert, dort in der Gedächtniskirche gleich neben dem Ort des Anschlags, sie zeigt es unübersehbar: Gott ist da, mitten in der Stadt, auch wenn es gerade nicht so scheint. Seine Versöhnung und Liebe gilt es gerade jetzt mit Tat und Wort (in dieser Reihenfolge) auszuleben. Gegenüber den Verzweifelten und Verzagten, den Traumatisierten und Trauernden. Mitchristen und Muslime, erst recht islamistische Hassprediger und rechte Hardliner sollen diese Botschaft hören – besser noch: diese Liebe spüren. Denn gerade für sie ist Christus gestorben. Ihnen und allen, die Angst haben, gilt in diesen Tagen die Weihnachtsbotschaft: „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Retter geboren!“
Was können wir jetzt, Tage danach, noch tun? Zu allererst das, wozu uns auch Fußballspieler, Künstler, Politiker und Promis öffentlich aufgefordert haben: „Pray for Berlin!“ Auf Deutsch hört sich das etwas kantiger an: „Betet für Berlin“. Dazu fordert man bei uns in der Regel nicht öffentlich auf. Also nur eine Redensart, aus dem Amerikanischen übernommen, wo man das schnell mal so sagt?
Diese Gebetsanliegen sind jetzt wichtig
Nehmen wir es doch ernst und tun es einfach: Wer beten kann, soll beten! Für die trauernden Angehörigen, für die mit dem Tod Ringenden, für die Verletzten. Beten für die Geschockten, dass sie Frieden bekommen. Beten für Einsatzkräfte, Ärzte, Pfleger, Polizisten, Feuerwehrleute, Seelsorger, damit sie Kraft haben, Trost geben – und selber Trost finden. Beten für die Politiker, dass sie besonnen reden und handeln. Für die Ermittlungsbehörden in Europa, dass die Täter gefunden werden und weitere Anschlagspläne rechtzeitig aufgedeckt werden. Beten auch für die, die sich über den Terror freuen und ihn für ihre Zwecke nutzen, dass sie umkehren.
Wir können beten und wir können das Gute tun. „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit dem Guten!“ (Römer 12,21) Unser eigenes Verhalten kann dazu beitragen, dass nicht die Bilder der Zerstörung das Symbol für den schrecklichen Anschlag am 19. Dezember bleiben, sondern der gekreuzigte Versöhner Jesus Christus, wie ihn die Skulptur in der Gedächtniskirche darstellt. Sein unmittelbar bevorstehendes Geburtstagsfest ist dazu eine gute Gelegenheit. Es fällt ja trotz des Terrors nicht aus. Wir können Weihnachten 2016 – gerade jetzt – als Fest des in unser Elend herunter gekommenen Gottes feiern. Vielleicht eher etwas besinnlicher als sonst. Und wir können der Sehnsucht nach dem Erlöser und nach Erlösung mit den alten und oft eher ernsten Weihnachtsliedern Ausdruck geben. Gerade dann, wenn uns die eigenen Worte fehlen und die Warum-Fragen noch quälen. (pro)
Axel Nehlsen, Pfarrer i.R., war bis Sommer 2016 Geschäftsführer des christlichen Netzwerks „Gemeinsam für Berlin”.
Von: Axel Nehlsen