„Gott schuf Himmel und Berge“

Die Schweizer Extremsportlerin Evelyne Binsack war an allen drei geografischen Polen des Planeten: dem Nord-, dem Südpol und dem Mount Everest. Heute weiß sie: Lange Zeit ist sie vor sich selbst davongelaufen. Auf ihren Expeditionen hat sie Schätze aus ihrer katholischen Kindheit wiederentdeckt und neu angefangen zu beten.
Von Norbert Schäfer
Die Natur ist für Evelyne Binsack eine „Vermittlungsstelle“ zu ihrem Schöpfer

Sie stand als erste Schweizerin auf dem Mount Everest, ist mit dem Fahrrad und zu Fuß bis zum Südpol gereist und über die zugefrorene Arktis zum Nordpol gewandert. Begonnen hat die Extremsportlerin mit Leichtathletik. Dann kam das Bergsteigen. „Das hat wahnsinnig viel Spaß gemacht einerseits, andererseits war es sauanstrengend. Das gefiel mir.“ Die „komischen Knickerbocker mit roten Socken“ der Kindheit tauschte sie gegen Jeans, T-Shirt und Laufschuhe. Die Strecken, die sie zuvor mit den Eltern abgewandert war, konnte sie bald joggen.

Im Alter von 22 Jahren durchstieg sie die Eigernordwand im Winter. Die rund 1.800 Meter hohe Steilwand des Berges gilt unter Bergsteigern als eine der schwierigsten Routen überhaupt. 1991 erhielt Binsack ihr Diplom als Bergführerin. Da war die Schweizerin aus dem Kanton Nidwalden gerade 24 Jahre alt und eine von lediglich fünf Bergführerinnen in Europa. 1998 machte sie zudem eine Ausbildung zur Helikopterpilotin. Aber die Berge blieben ihre Leidenschaft. Sie empfindet, dass Berge ein bestimmtes Naturell haben. Beim Anblick des Fitz Roy in Patagonien hatte sie das Gefühl, dass sich der Berg wie eine Barriere vor ihr auftürmt, „wie ein Macho, der sagt: ‚Schaue mich an. Ich bin der Größte und lasse mich nicht besteigen.‘“ Berge könnten aber auch „lieblich“ oder „recht weiblich“ erscheinen. „Jeder Berg hat seine Persönlichkeit. Und der allerstärkste Charakter, das ist der Mount Everest.“

Ihre klaren kristallblauen Augen blitzen hellwach und freundlich, als sie pro am Rande des Willow-Creek-Leitungskongresses davon erzählt. Sie trägt dezenten Silberschmuck. Mit Steinchen besetzte Ohrringe, ein kleines Kreuz und ein Ginko-Blatt an einem Kettchen. „Ich bin immer ein bisschen von mir selbst weggerannt“, sagt Binsack. Das weiß sie aber erst heute.

Im Grenzgebiet zwischen Leben und Tod

Den mächtigen Everest und seine Präsenz habe sie förmlich spüren können, sagt sie. Höhenbergsteigen ist Bergsteigen gegen die Zeit und hat ein Ziel: Überleben. Die Gipfelregion verlangt von den Alpinisten wegen der tückischen Gletscherspalten, todbringenden Lawinen und Steinschläge und fast senkrechten Felswänden physische und psychische Höchstleistungen. „Der Körper beginnt ab 7.000 Meter langsam zu sterben“, erklärt Binsack. Denn wegen der Höhe – auf 8.000 Meter fliegen Passagierflugzeuge – und des geringen Luftdrucks, kann die Lunge das Blut nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgen. Der Körper baut ständig ab, ein dauerhafter Aufenthalt ist unmöglich. Bergsteiger nennen den Bereich deshalb „Todeszone“. Heute suchen viele Menschen genau diese Grenzlinie zwischen Leben und Tod. Deshalb hat sich der Berg zum Touristenziel entwickelt. Hunderte starben bereits am Everest an Erschöpfung, der Höhenkrankheit – oder stürzten in den Tod. „Wer nur vom Ego getrieben wird – dem Wunsch nach Ruhm und Anerkennung –, kann am Berg leicht umkommen“, sagt die Alpinistin. Selbstkontrolle sei zum Überleben am Berg unerlässlich. Präsent sein in der Situation, nicht in der Angst, ebenso.

Mit Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten erreichte die Extremsportlerin sowohl den Südpol als auch den Nordpol Foto: John Rohn
Mit Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten erreichte die Extremsportlerin sowohl den Südpol als auch den Nordpol
Mit Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten erreichte die Extremsportlerin sowohl den Südpol als auch den Nordpol Foto: Evelyne Binsack
Mit Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten erreichte die Extremsportlerin sowohl den Südpol als auch den Nordpol

Nach 52 Tagen Gewöhnung an die Höhe erreichte Binsack 2001 von tibetischer Seite aus bei Sonnenaufgang den Gipfel auf 8.848 Metern über dem Meeresspiegel. Die letzte Etappe legte sie allein zurück. Auf dem Gipfel war die Alpinistin erfüllt von Staunen, Glück und Erleichterung. Nach wenigen Minuten hätte sie wieder absteigen müssen, damit der Sauerstoff für den Rückweg von zehn Stunden bis zum Basislager reichte. Trotzdem blieb sie über eine Stunde oben, so sehr hat sie dort die Zeit vergessen. Beim Abstieg passierte sie drei tote Bergsteiger, eingefroren und als mahnende Wegmarken konserviert. Die Silhouette eines Toten, des „Waving Man“, hat sich in ihre Erinnerung eingebrannt. Der hockte in etwa 8.700 Meter Höhe zu Eis erstarrt auf den Knien. „Eine Hand in der Luft, als würde er winken“, erinnert sich Binsack nachdenklich. „Es sah aus wie ein Hilferuf. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, spüre ich das am Solar Plexus.“

Scharten in der Seele

Ihre eigene Widerstandsfähigkeit und der Drang nach Freiheit und Bewegung liegen in ihrer Kindheit begründet. Binsack ist aufgewachsen in einer Familie mit einem „gefühlskalten Vater und einer liebenden Mutter“, erzählt sie. Die Mutter war katholisch, der Vater Atheist. Beide sind mittlweile tot. Der Vater erzog die Kinder mit „Angst und Aggressivität“, brüllte sie an. „Erst hat er geschlagen, später musste er nur noch mit dem Schlagen drohen“, berichtet Binsack in einem Referat auf dem Willow-Creek-Leitungskongress in Karlsruhe. Er sei kein böser Mensch gewesen, wertet sie rückblickend, er habe es nicht anders gelernt. Ein guter Freund der Familie brachte dem Mädchen bei Besuchen dann und wann kleine Geschenke mit. Der Mann wurde mit der Zeit zum Ersatzvater. „Irgendwann hat er sich an meinem Körper bedient“, berichtet die Powerfrau erstmals öffentlich und unter Tränen. Mit den sexuellen Übergriffen war die junge Frau damals „völlig überfordert“, erzählt sie. Sie hatte nie gelernt, „Nein“ zu sagen und sich zu wehren.

„Nein zu sagen bedeutete, dass ich emotional im Stich gelassen wurde. Dass ich unsichtbar war, dass ich schlecht war, dass ich eine Missgeburt war.“ Sie konnte nicht entfliehen und war vor Furcht und Angst förmlich erstarrt in der Situation. „Das war keine gute Strategie“, resümiert sie. Mit 17 Jahren verließ sie das Elternhaus. Es blieb eine „innere Aggression“, eine Energie. „Es fühlte sich an, als würden tausend rote Ameisen durch meinen Körper krabbeln.“ Die junge Frau fühlte sich „kribbelig und nervös“, stand vor dem „Explodieren“ und hatte das Bedürfnis, „losrennen“ zu müssen, formuliert sie es. Sie folgte dem Drang nach Bewegung und begann, exzessiv Sport zu treiben. Mit dieser „Energie der Ameisen“ wurde sie am Berg sehr schnell sehr gut und konnte Kraftreserven gerade dann freilegen, wenn sie eigentlich schon am Ende war. In Extremsituationen habe sie einen „Turbolader“. Binsack konnte die schlechten Erfahrungen der Kindheit umwandeln in eine psychische Widerstandsfähigkeit, mit der sie heute Krisen bewältigen kann.

Die Erfahrungen, die Evelyne Binsack bei ihren Expeditionen gesammelt hat, lässt sie in Referate und Workshops für Unternehmen einfließen Foto: J. Rohn/Evelyne Binsack
Die Erfahrungen, die Evelyne Binsack bei ihren Expeditionen gesammelt hat, lässt sie in Referate und Workshops für Unternehmen einfließen

Der Missbrauch hat Scharten in ihrer Seele hinterlassen. Das ist der bedächtigen und nachdenklichen Frau bewusst. „Die Fragmente der Zerstörung hole ich über die Expeditionen zurück“, sagt sie. In der Natur, im Abenteuer, am Berg kann sie sich spüren. Sie kann sich heute wieder selbst akzeptieren und auch damit umgehen, dass sie sich als junge Frau selbst nicht schützen konnte vor den Übergriffen. Damit hatte sie lange zu kämpfen. Sie hat auch gelernt, sich und anderen zu vergeben. Sie könne nicht anderen vorangehen, aber das eigene Leben nicht im Griff haben. „Als Bergführerin muss ich mich zuerst selbst führen können, wenn ich Gäste über einen schwierigen Grat oder Berg führen möchte. Erst dann kann ich Verantwortung für meinen Gast übernehmen.“

Mit Gebeten durch die Eiswüste

Am 1. September 2006 brach sie mit dem Fahrrad zum Südpol auf. 25.000 Kilometer. Sie erreichte ihn mithilfe von Rad, Skiern, Schlitten und zu Fuß am 28. Dezember 2007. Kurz vor dem Ziel, also bei 200 verbliebenen Kilometern, brach sie vor Erschöpfung zusammen. Sie spürte, der Tod war ihr ganz nah. Bei ihren Strapazen und dem eintönigen, stundenlangen Laufen durch die Eiswüste erinnerte sie sich an Gebete, die sie als katholisch erzogenes Kind gelernt hatte: das Vaterunser, das Rosenkranz-Gebet und andere. „Als ich nicht mehr wusste, was ich denken sollte, habe ich angefangen, regelmäßig zu beten“, sagt sie in einem Interview von ERF Schweiz. Sie begann, diese Gebete immer wieder vor sich herzusagen.

Das gab ihr Kraft, ließ sie die Schmerzen und auch die Zeit vergessen. Und sie erfuhr, dass auch ihre Mutter sie im Glauben getragen hat. Nachdem diese gestorben war, entdeckte Binsack im Bücherregal ihrer Eltern das erste Buch, das sie geschrieben hatte – von der Expedition auf den Mount Everest. Darin lag ein kleiner Zettel mit einem Bibelvers, Josua 1, Vers 9: „Sei mutig und entschlossen! Hab keine Angst und lass dich durch nichts erschrecken; denn ich, der Herr, dein Gott, bin bei dir, wohin du auch gehst!“ Ihre Mutter habe einen starken Glauben gehabt. „Damit konnte sie viel von ihrer Angst neutralisieren“, sagt Binsack – ihre eigenen Ängste, aber auch die um ihre Tochter.

Binsack pflegt ihre eigene Art der Spiritualität. „Es ist nicht so, dass ich meinen Glauben praktiziere in dem Sinn, dass ich in die Kirche gehe oder mich an die Sakramenten halte.“ Glauben empfindet die Sportlerin als persönlichen Austausch mit ihrem Schöpfer, ohne die Vermittlungsstelle der Kirche. „Vielleicht ist die Vermittlungsstelle die Natur für mich.“ In ihrem WhatsApp-Profil bringt sie das auf diese Formel: „Gott schuf Himmel und Berge.“

Von: Norbert Schäfer und Jonathan Steinert

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