Er gilt als einer der großen Intellektuellen der Sozialwissenschaften und der Philosophie: Jürgen Habermas war an fast allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland beteiligt und bezog Stellung. Heute feiert der große Denker seinen 90. Geburtstag.
Habermas wuchs in Gummersbach auf. Seine Tätigkeit im Jungvolk sorgte 2006 für eine heftige gesellschaftliche Kontroverse. In seiner postum erschienenen Autobiographie bezeichnete der Historiker Joachim Fest Habermas als einen „dem Regime in allen Fasern seiner Existenz verbundenen HJ-Führer“, was Habermas als „Denunziation“ zurückwies.
Von revoltierenden Studenten distanziert
Seine wissenschaftlichen Stationen hatte Habermas in Göttingen, Zürich und Bonn. Für Aufsehen sorgte der Student 1953 mit einer Rezension zu Martin Heideggers „Einführung in die Metaphysik“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nach der Promotion in Bonn über die Zwiespältigkeit in Schellings Denken – einem Philosophen des 19. Jahrhunderts – kam er 1956 nach Frankfurt an das Institut für Sozialforschung. Dort prägte ihn vor allem Herbert Marcuse.
Habermas habilitierte sich 1961 in Marburg mit einer Arbeit über den Strukturwandel der Öffentlichkeit. 1964 bekam er Max Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie in Frankfurt. Von den radikalen Studentengruppen um Rudi Dutschke distanzierte er sich nach und nach. Ab 1971 leitete er mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut in Starnberg. Seine wohl wichtigste Arbeit über das Theorieprojekt des kommunikativen Handelns veröffentlichte er 1980. Von 1983 bis zu seiner Emeritierung 1994 hatte er den Lehrstuhl für Philosophie in Frankfurt inne. Auch nach seiner wissenschaftlichen Laufbahn meldete sich Habermas publizistisch zu Wort.
Zehre vom christlichen Erbe
Er unterschied in seiner Philosophie moralische Richtigkeit von theoretischer Wahrheit. Eine Norm erhebe Anspruch auf Gültigkeit „auch unabhängig davon, ob sie verkündet und in dieser oder jener Weise in Anspruch genommen wird“. Im Gegensatz dazu bestehe ein Wahrheitsanspruch niemals unabhängig von der Behauptung, in der er formuliert wird.
In den 1990er Jahren beschäftigte sich Habermas mit religiösen Themen, vor allem mit dem Einfluss der jüdisch-christlichen Tradition auf das westliche Denken. Habermas sagte einmal in einem Interview, dass auch sein eigenes Philosophieren vom christlichen Erbe zehre.
Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, würdigte das Wirken des Philosophen und Soziologen in einer Pressemitteilung anlässlich seines Geburtstages: „In einer Zeit, in der die Kraft des Arguments im öffentlichen Diskurs immer mehr überlagert wird durch eine Kultur der Anprangerung, Skandalisierung und Beschuldigung, sind die Anstöße von Jürgen Habermas für eine Diskurskultur, die diesen Namen wirklich verdient, aktueller denn je.“
Religion als „permanentes Hintergrundrauschen“
Bedford-Strohm selbst habe Gedanken Habermas’ in seinen Büchern und Aufsätzen aufgenommen. Habermas habe deutlich gemacht, wie wichtig Religion auch für das öffentliche Leben sei, wo sie dem übergreifenden Konsens der Menschenrechte eine Basis gibt: „Auf seinem Leben liegt viel Segen und von seinem Leben ist bis zum heutigen Tag viel Segen ausgegangen“, schreibt Bedford-Strohm.
Der Deutschlandfunk betont in einem Beitrag, dass die Religion in Habermas’ Überlegungen immer eine wichtige Rolle gespielt habe: allerdings nicht in Form persönlicher Spiritualität, sondern aus wissenschaftlichem Interesse. So bilde Religion „eine Art permanentes Hintergrundrauschen“ in seinem Werk, sagt der Frankfurter Religionsphilosoph Thomas Schmidt. Religion als eine politische Ressource sei Habermas in Zeiten einer „entgleisenden Moderne“ immer wichtiger geworden.
In der 1981 erschienenen „Theorie des kommunikativen Handelns“ gehe Habermas noch von einem langsamen Verschwinden der Religion aus. Heute sei sie für ihn „ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor, die für ihn dunkel und undurchsichtig“ bleibe. Habermas habe Ressourcen gesucht, die als „Kitt für die Gesellschaft“ dienen könnten. Ihm habe auch an einem kooperativen Miteinander von Gläubigen, Nichtgläubigen und Andersgläubigen gelegen. Das wechselseitige Aufeinander-Hören könne der gesamten Gesellschaft zugute kommen.
Nicht das Erbgut manipulieren
In einer Debatte mit Papst Benedikt XVI. hielt Habermas fest, dass er „den Religionen ein besonderes Gespür für Sünde, Verfehlung, Scheitern und Gelingen des Lebens zutraut, an das die philosophische Sprache nicht zu rühren vermag“. Habermas lehnte es ab, wenn Eltern manipulierend in das Erbgut ihrer Kinder eingreifen. Eine Person dürfte nicht über die „‚natürliche Ausstattung“ einer anderen Person entscheiden und damit Macht über sie besitzen, „ohne den Konsens des Betroffenen zu bestimmen“.
Dass Kinder mit bestimmten nützlichen und wünschenswerten Eigenschaften ausgestattet werden sollen, bedroht nach Habermas die Autonomie des Subjekts. Religionsphilosoph Schmidt beschreibt Habermas’ Verhältnis zur Religion wie folgt: „Er ist wie ein Kunstkritiker, der Kunst versteht, aber selbst nicht Künstler ist. So versteht er Religion: Er ist selbst nicht religiös, weiß aber sehr genau, worum es bei dieser Sache geht.“
Für sein prägendes Engagement erhielt der „überzeugte Europäer“ unzählige Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kluge-Preis, der als „Nobelpreis der Philosophie“ gilt. Des weiteren ist Habermas gewähltes Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien. Aus der 1955 mit Ute Wesselhoeft geschlossenen Ehe gingen drei Kinder hervor.
Von: Johannes Blöcher-Weil