Wenn Linda Schulz in ihre Heimat reist, reist sie in ein kaltes Land. Die Kälte, von der sie spricht, ist allerdings nicht der Jahreszeit geschuldet, es ist vor allem eine zwischenmenschliche Kälte, die die junge Frau in Deutschland wahrnimmt. Es beginnt nach der Landung mit den harten Gesichtern am Flughafen, mit Sicherheitsbeamten, die nicht zurückgrüßen, mit rücksichtslos Rempelnden am Gepäckband und Drängeleien um ein Taxi. Es ist diese um sich greifende Ignoranz und Anstandslosigkeit im Miteinander, die Linda Schulz Unbehagen bereitet und die man selbst fast schon als Normalität hinnimmt.
„Wäre ich in einem anderen Land aufgewachsen, wäre ich wahrscheinlich schockiert“, sagt sie. Würde sie allerdings nicht in einem anderen Land leben, würden ihr das rauhe Klima, die Überfremdungsangst und Abschottungsmentalität vielleicht gar nicht so sehr auffallen. Doch Linda Schulz, 30 Jahre alt, blonde, lange Haare, weiche Gesichtszüge, Christin, lebt schon seit zwölf Jahren in Nigeria. Ihr Zuhause ist das Camp „Home for the Needy“ am Rande des Molochs Benin City, in dem Flüchtlinge vor der Terrormiliz Boko Haram Schutz finden. Dass diese Extremisten entgegen der abwiegelnden Rhetorik der nigerianischen Regierung nach wie vor stark sind, haben sie gerade auf entsetzliche Weise bewiesen und ein Internat mit etwa 1.000 Schülerinnen im Nordosten des Landes überfallen. Wie viele Mädchen an diesem Montagabend entführt worden sind, darüber gibt es unterschiedliche Angaben.
So stickig, dass das Atmen schwerfällt
In dem Camp leben mehr als 2.500 Menschen in ärmlichen Verhältnissen, die meisten davon sind Frauen und Kinder. Es fehlt an vielem, an Medikamenten, an Essen, Schlafplätzen, Unterkünften, Toiletten, Küchenutensilien, Schulbüchern und Moskitonetzen. Vor allem an Medikamenten. Die Tropen sind tückisch, Malaria ist ein großes Problem. Über das weitläufige, von privaten Sicherheitsleuten bewachte Gelände verteilen sich notdürftig errichtete Holzbaracken, fertige und halbfertige Klassenräume, Feuerstellen zum Kochen. Auf einem Feld wachsen Ananas, auch einige magere Ziegen gibt es. In den niedrigen Häusern ist es so stickig, dass das Atmen schwer fällt. Wie Sardinen lägen die Kinder nachts auf dem Boden nebeneinander und schliefen, sagt Linda Schulz. Mehr als 150 auf einer Fläche von 140 Quadratmetern.
Linda Schulz kümmert sich um die Bürokratie, sorgt dafür, dass das Essen gerecht verteilt wird, und hilft Menschen, die im Camp arbeiten wollen, bei der Visumbeantragung. Dieses Leben, das auf den ersten Blick kaum mehr als ein Dach über dem Kopf bietet, ist für Linda Schulz keines in Armut, sondern eines in Reichtum. Es gebe viel Liebe hier, sagt sie, und Gott.
In ihrer sächsischen Heimat ist die AfD Volkspartei
Alle paar Monate verlässt sie das Camp und reist nach Deutschland, hält Vorträge, besucht christliche Gemeinden und ihre Eltern in der alten Heimat. Nichts könnte von der nigerianischen Camp-Realität weiter entfernt sein als der Ort in Sachsen, aus dem Linda Schulz stammt: Markneukirchen. Etwa 7.000 Einwohner leben in dem Städtchen. Bei der Bundestagswahl 2017 kam die AfD im Wahlkreis auf 26,4 Prozent der Stimmen und war damit die zweitstärkste Kraft hinter der CDU. Eine Volkspartei. Wie sonst sollte man so ein Ergebnis nennen?
Die Fremden, Schutzsuchenden, Geflüchteten, gegen die die AfD hetzt, sind genau die Menschen, denen Linda Schulz hilft. Was bei der AfD der Fremdenhass ist, ist bei ihr die Nächstenliebe. Für viele in ihrer Heimatstadt dürfte Linda Schulz, die Brücken gegen die Abschottung schlägt, eine Verräterin sein. Sie sagt: „Mir gefriert regelrecht das Blut in den Adern, wenn ich sehe, wie die AfD immer weiter aufsteigt.“ Es ist das einzige Mal in diesem Gespräch, dass Linda Schulz für einen Moment ihre Gemütsruhe verliert. Das politische Geschehen in Deutschland, dass sie von Nigeria aus aufmerksam verfolgt, besorgt sie. Ihre Erklärung für den Erfolg der AfD? „Frust und irrationale Ängste. Gerade bei uns im Osten habe ich oft das Gefühl, dass die Leute irgendetwas aufschnappen – wie die Argumente der AfD eben – und für bare Münze nehmen. Zum Beispiel, dass Flüchtlinge ihnen etwas wegnehmen. Aber wer hat seinen Job verloren, weil ihn jetzt ein Flüchtling hat? Wem geht es schlechter, weil wir Menschen aufnehmen, die in Not sind?“
Linda Schulz hat das Gefühl, dass diejenigen, die am lautesten schreien, die sind, die keinen einzigen Flüchtling persönlich kennen und sich ganz in ihrem ressentimentgeladenen Wir-gegen-die-Anderen-Denken eingerichtet haben.
„Reichweite des Einfühlungsvermögen vergrößern“
Der Mensch sei eben ein Spezialist darin, andere auszugrenzen, sagt der Verhaltensforscher Frans de Waal. Er dämonisiere Menschen anderer Nationalitäten oder Religion, erzeuge Ängste und Wut. Aber Identifikation, sagt de Waal, sei eine fundamentale Vorbedingung für Empathie. Auf die Frage eines Journalisten, wie er denn die Gesellschaft ändern würde, antwortete de Waal einmal: „Wenn ich könnte, würde ich die Reichweite des Einfühlungsvermögens vergrößern.“
Das würde auch Linda Schulz tun. Käme sie mit AfD-Wählern in Markneukirchen ins Gespräch, würde sie sie nach ihren Vorurteilen fragen, nach ihren Begegnungen mit Flüchtlingen, nach ihren Ängsten. Woher kommt der Hass? Aber bislang hat sich noch nicht die Gelegenheit für ein Gespräch ergeben, vielleicht auch aus Angst.
Linda Schulz bewegt sich in zwei Welten. In der einen Welt hilft sie Menschen, die unfassbare Greueltaten erlebt haben und ihr eigenes Leben nur um Haaresbreite retten konnten, wieder Fuß zu fassen. In der anderen herrscht so viel Überfluss, dass viele gar nicht wissen, was sie mit ihrem Leben eigentlich anfangen sollen. Dass Linda Schulz in beiden zurechtkommt, dass der Boden, auf dem sie steht, nicht schwankt, liegt an ihrem Glauben. Er ist ihr Halt. Sie hat gefunden, wonach sich jeder unruhige, rastlose, suchende Geist sehnt: Frieden. „Und siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“, zitiert sie lächelnd Matthäus, 28.
Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität ist riesig
Besonders in den vergangenen Jahren fällt Linda Schulz in Deutschland auf, dass die Sehnsucht vieler Menschen nach Glück ungeheuer groß ist. All die spirituellen Angebote, die irgendeine Lücke füllen sollen, sagt sie. Die Yogawelle. Das Meditieren. Jedes Angebot als Lifestyleprodukt verpackt. Aber tief im Innersten, sagt sie, da sei sie überzeugt, dass sich viele Menschen wunderten, warum sich das Glück einfach nicht einstellt, warum ihre Beziehung sie nicht erfüllt. Warum der Schmerz über eine unerfüllte Liebe so groß ist. Und woher nur diese tiefe Einsamkeit kommt.
Mit 13 war Linda Schulz selbst, wie sie sagt, eine „Verlorene“. Von der Bibel und der Religion, die in ihrem Elternhaus eine so wichtige Rolle spielten, wollte sie nichts mehr wissen. Sie rebellierte. Konzentrierte sich auf ihre Oberfläche. Wollte hübsch sein, gesehen und begehrt werden. Sie hatte einen Freund, schminkte sich exzessiv und verließ das Haus niemals ohne Make-up. Nur ein einziges Mal, da hatte sie nach einer Party bei einer Freundin geschlafen und eilte nach Hause, den Kopf vor Scham über ihr nacktes Gesicht gesenkt. „Ich dachte, alle schauen mich an und finden mich hässlich“, sagt sie. Linda Schulz umgab sich mit falschen Freunden, Rassisten, Neonazis, deren Meinung sie zwar nicht teilte, es aber nicht wagte, ihre eigene zu vertreten. Der Wunsch, dazuzugehören, war stärker.
„Mit 16 habe ich mein Leben Jesus übergeben“
Linda Schulz hätte im Verdrängungsmodus weiterexistieren können. Wäre die innere Leere, das „Loch im Herzen“, nicht so schmerzhaft gewesen, dass die schönen Momente das Unglück nicht mehr aufwiegen konnten. „Ich war auf dem falschen Weg“, sagt sie. Linda Schulz haderte mehr als ein Jahr lang, bis sie einen „Schlussstrich“ unter ihr bisheriges Leben zog. „Mit 16 habe ich mein Leben Jesus übergeben.“ Aber geht das tatsächlich, sein Leben bewusst aus der Hand zu geben?
Und Nigeria? Der Außenstehende mag die Begegnung mit Pastor Solomon, dem Gründer des Camps, Zufall nennen. Dass Pastor Solomon ausgerechnet in ihrer freikirchlichen Gemeinde predigte, nennt Linda Schulz Gottes Wille. Die Verwunderung, die ihr hin und wieder in Sätzen wie „All das in Ihrem jungen Alter!“ entgegenschlägt, befremdet sie. Als könne der Glaube erst Platz im Herzen einnehmen, nachdem die besten Jahre voll ausgekostet worden sind, nachdem man begehrt worden ist, Karriere gemacht hat und so weiter.
Inzwischen ist Linda Schulz zurück in Nigeria. Sie wird keine Zeit benötigt haben, sich einzugewöhnen. Sie hat die eine Welt verlassen und ist ganz selbstverständlich in der anderen angekommen, die sie „Herzensheimat“ nennt. Sie wird weiterhin Nachrichten aus Deutschland lesen, auch aus Sachsen.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Wir danken für die Genehmigung zum Abdruck. Alle Rechte verbleiben bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
Von: Melanie Mühl