Es ist ein regnerischer Abend im Jahr 2013. Vor den Toren des Berliner Veranstaltungsorts Urania demonstrieren Dutzende Frauen gegen Alice Schwarzer. „Halt die Klappe, Alice“ oder „Wir müssen nicht gerettet werden“ steht auf Bannern, die sie mitgebracht haben. Schwarzer nimmt’s gelassen: „So etwas habe ich in meiner politischen Karriere schon oft erlebt, ihr Lieben“, sagt sie später von der Bühne herab zu Demonstranten im Publikum.
In der Tat gehört sie wohl zu den umstrittensten Personen der deutschen Gegenwart. Schwarzer, die Feministin, die Gender-Verfechterin, die Islam-Kritikerin und die Frau, die Prostitution abschaffen will. Für letzteres wird sie im November 2013 von jenen Frauen angegriffen, die sie eigentlich schützen möchte. Prostituierte fürchten um ihren Job und werfen ihr vor, sie fremdbestimmen zu wollen. Von christlichen Organisationen hingegegen wird sie für dieses Engagement gelobt und geachtet. So ist es mit Alice Schwarzer – die Frontverläufe bestimmt sie mit jeder ihrer Kampfansagen neu.
„Wir haben abgetrieben“
Denn eigentlich ist die ab Sonntag 75-Jährige gerade den Frommen ein rotes Tuch. 1971 initiierte sie das Bekenntnis von 374 Frauen in der Zeitschrift Stern „Wir haben abgetrieben“ und führte damit die größte pro-Abtreibungskampagne der deutschen Geschichte an. Schwarzer ist Verfechterin einer Form der Gender-Theorie, nach der das Geschlecht, aber auch die sexuelle Orientierung, gesellschaftlich konstruiert ist. In ihrem Buch „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ benannte sie 1975 Sexualität als Instrument zur Unterdrückung der Frau. Zwei Jahre später brachte sie zum ersten Mal die bis heute verlegte feministische Zeitschrift Emma heraus.
Emma ist seitdem Mittelpunkt zahlreicher Kampagnen Schwarzers gewesen. Die Zeitschrift begleitete nicht nur ihren politischen Einsatz für die Abschaffung der Prostitution. 2015 sorgte sie darin mit einem Kommentar für Aufruhr, in dem sie Verständnis für Pegida-Anhänger äußerte und Islam-Kritik übte. Die Scharia zu propagieren sei eine neue Form des Faschismus, gegen die demonstriert werden müsse, forderte sie, und weiter: „Die 81 Prozent Muslime, die sich in Deutschland so wohl fühlen, hätten verdient, dass wir zu ihnen halten. Und auf die restlichen 19 Prozent müssten wir offensiv zugehen, nicht etwa indem wir das Kopftuch bejahen (das andernorts den Frauen mit Nägeln in den Kopf geschlagen wird) oder die Burka für ‚selbstgewählt‘ halten (die andernorts das Leichentuch für Millionen Frauen ist), sondern indem wir die (noch) nicht Integrierten selbstbewusst einklagen, sie auffordern, unser Wertesystem anzuerkennen: Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Gleichberechtigung – sowie strikte Trennung von Religion und Staat.“
Scharia in Europa
Bereits fünf Jahre zuvor veröffentlichte Schwarzer das Buch „Die große Verschleierung“, in dem sie vor einem aggressiven Islam warnt. „Das wahre Problem ist die systematische Untermauerung unseres Bildungswesens und Rechtssystems mit dem Ziel der Islamisierung des Westens, im Klartext: der Einführung der Scharia mitten in Europa“, beklagte sie schon damals und warf „aufgeklärten Muslimen“ vor, zu lange geschwiegen zu haben. Dass der Text bereits vor sieben Jahren erschien, fällt aus heutiger Sicht kaum auf. Auch 2017 äußern sich Islam-Kritiker ähnlich über die Beschäftigung islamischer Friedensrichter oder Zwangsehen mitten in Deutschland.
Es wird niemanden wundern, dass Schwarzer sich selbst als nicht gläubig bezeichnet, obwohl sie sich mit zwölf Jahren taufen ließ. In ihrem Engagement für die Rechte der Frauen ist sie vielen Christen zu weit gegangen, hat aber auch an deren Seite gegen Prostitution und einen radikalen Islam gekämpft – wenn auch mit einiger Distanz. Und das Gefecht geht für sie weiter, auch mit 75. Noch immer ist sie Chefredakteurin der Emma. Noch immer setzt sie sich für die Gleichberechtigung der Frau ein. 2013 erschien ihr die Bestrafung von Freiern, die Prostituierte aufsuchen, als ein Schritt auf dem Weg dahin. „Realität sticht Ideologie“, rief sie an jenem Abend den Gegendemonstranten im Publikum zu. Dabei ist sie selbst eine Mischung aus Realo und Ideologin.
Von: Anna Lutz