Prägender Machtpolitiker und Mensch mit Macken

Er wurde verehrt als Kanzler der Einheit und großer Europäer, und er wurde verspottet als Provinzpolitiker aus der Pfalz. Helmut Kohl war Christdemokrat mit Herz und Seele, Spendensünder und gläubiger Katholik. Er war einer der einflussreichsten Politiker des 20. Jahrhunderts. Ein Essay von Christoph Irion
Von PRO
Helmut Kohl auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in Dresden im Jahr 1990

Sechzehn Jahre lang regierte er die Bundesrepublik Deutschland, so lange wie kein anderer Bundeskanzler. Als Helmut Kohl nach der verlorenen Wahl im Herbst 1998 die Amtsgeschäfte an Gerhard Schröder (SPD) übergeben musste, da hatten die damals Jungen das kollektive Empfinden: Kanzleramt ohne Kohl – das geht doch gar nicht.

Helmut Kohl, der jetzt im Alter von 87 Jahren in seinem Bungalow im Ludwigshafener Stadtteil Oggersheim gestorben ist, ist ein Politiker von epochaler und im mehrfachen Sinne des Wortes von kolossaler und prägender Bedeutung gewesen. Für Deutschland und Europa. Hierin sind sich inzwischen begeisterte Begleiter, kritische Beobachter, einstige politische Freunde und Gegner weitgehend einig.

Nicht nur Kanzlerin Angela Merkel, deren Verhältnis zu ihrem Förderer bis zuletzt nicht ungetrübt war, sieht Kohl als „Glücksfall für die deutsche Geschichte“. Auch Sozialdemokraten wie Außenminister Sigmar Gabriel bescheinigen dem „großen Staatsmann“ ein historisches „Vermächtnis“ von kontinentaler Wirkung. Führende Linke erinnern in ihrer „Trauer um einen großen Europäer“ zwar auch an dessen widersprüchliches Erbe. Dennoch zollen sie der prägenden Persönlichkeit Kohl Respekt, wenn sie heute sagen: „Er hat die soziale Spaltung des Landes nie so groß werden lassen wie seine Nachfolger und es vermieden, die Bundesrepublik in militärische Abenteuer zu stürzen.“

Der historischen Verantwortung Deutschlands stets bewusst

Hierin mag historisch gesehen womöglich eines der wichtigsten politischen Verdienste Kohls zu finden sein: Denn der in fast jeder Hinsicht gewichtige Machtmensch Kohl, der in der politischen Auseinandersetzung in der Wahl seiner taktischen Mittel nie zimperlich war, war zugleich immer ein ziviler Kämpfer: Kohl mochte die Bundeswehr – aber er sah sie als Friedensarmee, nicht als Speerspitze für militaristische Ambitionen. In Kohls Regierungszeit hat sich die Bundesregierung mehrfach per Scheck von militärischen Verpflichtungen freigekauft – zum Beispiel 1991 während des Golfkriegs. Kohl hat nie den Tod seines Bruders im Zweiten Weltkrieg vergessen. Politisch erinnerte er beim Thema Militäreinsätze stets an die besondere historische Verantwortung Deutschlands. Und genau so haben ihn auch die europäischen Verbündeten erlebt: zwar als zielstrebig und interessenorientiert, zugleich aber nie als teutonischen Kraftmeier und Ellenbogen-Politiker. Stets wusste der promovierte Historiker Kohl, dass Deutschland seine neue Rolle unter den europäischen Nachbarn in Europa vor dem Hintergrund der Nazi-Katastrophe finden muss.

Stephan-Andreas Casdorff, Chefredakteur des Tagesspiegel, schrieb schon vor sieben Jahren: „Es war vielleicht das größte Glück Deutschlands, dass es in der Zeit der Vereinigung im Westen von einem Kanzler regiert wurde, der die Geschichte im Kopf hatte.“

Neue Blüte der jüdischen Gemeinschaft ermöglicht

Und der Zentralrat der Juden erinnert in diesen Tagen daran, dass der Altkanzler der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eng verbunden gewesen sei: Ende der 80er-Jahre war es in der ehemaligen Sowjetunion zu einer starken Welle des Antisemitismus gekommen: „Im Bewusstsein der historischen Verantwortung Deutschlands machte Helmut Kohl damals den Weg frei für die Einwanderung“ Tausender Juden. Dies habe eine „neue Blüte der jüdischen Gemeinschaft“ in Deutschland ermöglicht, schreibt Zentralratspräsident Josef Schuster.

Die folgenreichste und glücklichste politische Aktivität Helmut Kohls begann im stillen Kämmerlein. Am 28. November 1989 stellte der Kanzler im Bundestag sein „Zehn-Punkte-Programm“ vor. Völlig überraschend für Parteifreunde, den FDP-Koalitionspartner, Oppositionelle, aber auch unabgestimmt mit internationalen Partnern präsentierte Kohl drei Wochen nach dem Mauerfall in Berlin seine Vorstellungen, wie Deutschland im europäischen Rahmen wiederzuvereinigen sei. Kohl hatte seine Ideen zu Hause entwickelt. Ehefrau Hannelore hatte sie auf einer Reiseschreibmaschine abgetippt. Nur wenige der Punkte haben später im Vereinigungsprozess eine Rolle gespielt. Aber der Plan hatte eine andere Wirkung: Der Kanzler hatte die Wiedereinigung der beiden deutschen Staaten offiziell auf die Tagesordnung gesetzt. Der Zug Richtung Einheit setzte sich in Bewegung und wurde trotz vieler Widerstände nicht mehr aufgehalten. Der „Spiegel“ bezeichnete Kohls „Zehn Punkte“ später als ein „Dokument von welthistorischer Bedeutung“.

Der gravierende Unterschied zwischen Kohl und Bismarck

Wenn manche Historiker inzwischen sogar Parallelen zwischen der Politik des „Kanzlers der Einheit“ und dem Wirken von Otto von Bismarck ziehen, der 1871 das Deutsche Kaiserreich gründete, dann mag das zumindest teilweise begründet sein: Bismarck wie Kohl haben aktiv durch ihre virtuose Vereinigungs- und Bündnispolitik sowie durch Diplomatie erheblich die Landkarte und Geschichte Europas in ihrem jeweiligen Zeitalter mitgestaltet. Aber es gibt einen gravierenden Unterschied: Während sich Kohl niemals martialischer Aussprüche oder Gesten bediente, beschrieb der kernige Preuße Bismarck Politik zwar als die „Kunst des Möglichen“. Aber im Zweifel würden die „großen Fragen der Zeit“ nicht durch Reden oder Mehrheitsentscheidungen entschieden – „sondern durch Eisen und Blut“.

Die historische Bildung Kohls hatten politische Beobachter über viele Jahre eher als Handicap gedeutet: Kohl wurde als „Generalist“ belächelt. Für Heiterkeit sorgte zudem, wenn er in seinem Pfälzer Singsang-Dialekt etwa forderte, Deutschland müsse „aus der Gechichte“ lernen. Besonders zu Beginn seiner Kanzlerschaft wurde Kohl ungezählte Male als „Birne“ karikiert und als dumm schwätzender Saumagen-Provinzpfälzer persifliert. Viele Intellektuelle übersahen sein geistiges Potenzial und ignorierten seinen historisch begründeten Weitblick. Wer Kohl in Hintergrundgesprächen kennenlernte, konnte hingegen erleben, wie belesen der Kanzler war – er hatte viele der Bücher gelesen, von denen andere nur berühmte Zitate aufgeschnappt hatten. Kaum präsent war auch, dass Kohl bereits 1969 erstmals Regierungsverantwortung übernommen hatte: Im Alter von nur 39 Jahren wurde er Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz. Innerhalb von sieben Jahren realisierte er zusammen mit Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf mutige Reformen.

Im August 1998 begrüßte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den Politikredakteur Christoph Irion in Berlin zu einem Fototermin mit anschließendem Interview Foto: Lothar Müller
Im August 1998 begrüßte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den Politikredakteur Christoph Irion in Berlin zu einem Fototermin mit anschließendem Interview

Kohl und die Journalisten

Aus der Sicht von Medienschaffenden war Helmut Kohl ein herausforderndes Phänomen: Der große Kanzler war einerseits omnipräsent. Andererseits kümmerte er sich einen Dreck um die vermeintlichen Spielregeln im spannungsreichen Mit- und Gegeneinander von Politik und Presse. Seine Verachtung für Journalisten ließ er die Betreffenden direkt spüren, indem er sich in aller Öffentlichkeit auf deren Kosten lustig machte. Besonders bitter traf es den Spiegel und dessen legendären Herausgeber Rudolf Augstein (1923-2002): Der „Journalist des Jahrhunderts“ hatte es sich schon vor Beginn von Kohls Kanzlerschaft im Jahr 1982 mit dem bodenständigen Pfälzer verscherzt. Und zwar für immer: Nie wieder hat Kohl dem mächtigen Nachrichtenmagazin trotz zahlreicher Anfragen ein Interview gewährt. Augstein, der brillante zeithistorische Essays schrieb, zeigte immerhin Größe: Als einer der ersten großen Intellektuellen erkannte er im Sommer 1990 öffentlich Kohls historische Leistung im Vereinigungsprozess an und schrieb: „Glückwunsch, Kanzler!“

Kohl war bereits in vordigitalen Zeiten ein Dinosaurier der Mediengesellschaft. Seine Rhetorik und stilistische mediale Präsentation galten als grauenhaft. In seinen ungeschliffenen Interviews war nicht wichtig, wie er etwas sagte. Sondern, was er sagte. Auf der Bühne war Kohl ein schlechter Redner. Wer ihn allerdings nicht nur am Fernseher beobachtete, sondern live erlebte, der spürte sofort und immer die geradezu raumgreifende Präsenz und Ausstrahlung dieses gewichtigen Mannes. Hierin begründete sich auch seine Machtbasis innerhalb der CDU, deren Vorsitzender er 25 Jahre lang war: Kohl hatte ein „Elefantengedächtnis“, wie er selbst sagte. Er kannte viele Hunderte Parteifreunde und Ortsvereinsvorsitzende persönlich – und pflegte diese Kontakte vor allem mit dem Telefonhörer in der Hand. Dieses „System Kohl“, wie er es selber nannte, sicherte über Jahrzehnte die starke Unterstützung der Parteibasis.

Werte von Jesus Christus durchziehen sein Denken

Zu Recht haben Vertreter der katholischen Kirche, Freunde Kohls und Repräsentanten der Deutschen Evangelischen Allianz in diesen Tagen daran erinnert, dass Kohl ein gläubiger Katholik gewesen sei. Werte und Ethik von Jesus Christus sowie die Prinzipien der katholischen Soziallehre durchziehen sein Denken, sein Reden und Handeln auf allen Ebenen. Eindrucksvoll schilderte das jetzt auch der langjährige Chefredakteur und Herausgeber der Bild-Zeitung, Kai Diekmann. Als enger Freund besuchte er Kohl auch nach dessen schwerem Unfall im Jahr 2008 regelmäßig zu Hause. Diekmann berichtet, wie viel Vertrauen der Altkanzler bis zum Schluss in den „lieben Gott“ setzte und jeden Sonntag seinen Pfarrer zur Hausandacht empfing.

Bei einem Menschen, der über Jahrzehnte eine derart große Präsenz in der Öffentlichkeit hatte, werden aber auch dunkelste Schatten öffentlich sichtbar: Schlimmste Narben, Wunden, zwischenmenschliche und politische Verwerfungen sowie Schicksalsschläge haben Kohls Leben bis zum Schluss begleitet.

Sturheit in der Spendenaffäre

Ende 1999, gut ein Jahr nach dem Ausscheiden aus dem hohen Amt, holte Kohl die CDU-Spendenaffäre ein. Zwar gelang es nicht, dem Altkanzler nachzuweisen, dass er und seine Regierung „käuflich“ gewesen seien. Auch kritische Begleiter, die ihn gut kannten, kämen nicht auf die Idee, dass Helmut Kohl je bestechlich war. Aber er war stur und eigensinnig. Und das hatte zur Folge, dass er sich als Bundeskanzler wissentlich nicht an die Spielregeln des Parteiengesetzes gehalten hat: Er hatte von mehreren Großspendern Geld in Millionenhöhe für die CDU erhalten. Weil diese verlangten, anonym zu bleiben, verschwieg der Kanzler deren Namen, die er nach dem Gesetz hätte melden müssen. Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages erklärte Kohl seine eigene Rechtsauffassung: Er habe sich nicht persönlich bereichert, sondern Gutes für die Partei getan. Sein Versprechen werde er halten und die Namen nicht preisgeben. Dieses Wissen werde er mit ins Grab nehmen – und dabei ist es geblieben.

2001 nahm sich seine erste Ehefrau Hannelore im Alter von 68 Jahren das Leben. Offiziell, weil sie an einer Krankheit litt. Längst ist bekannt, dass sie ihr Leben in Pflichterfüllung und Selbstverleugnung an der Seite des großen Helmut Kohl einfach nicht mehr weiterführen mochte. Kohl heiratete 2008 seine frühere Mitarbeiterin Maike Richter. Aber nach dem Tod seiner ersten Frau zerbrachen auch die Beziehungen zu seinen Söhnen Walter und Peter. Der heute 53-jährige Walter stand jetzt am Totenbett seines berühmten Vaters. Hinterher würdigte er ihn als einen, der „viel für den Frieden in Europa getan“ habe. Er selbst sei „sehr traurig“. Vor sechs Jahren habe er zuletzt mit seinem Vater telefoniert. Danach habe er ihn nicht mehr besuchen dürfen. (pro)

Von: Christoph Irion

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