In der ersten Phase der Coronakrise sei die Kirche ganz still gewesen, sagte Olivia Mitscherlich-Schönherr, die an der Hochschule für Philosophie in München, einer kirchlichen Hochschule der Jesuiten, Philosophische Anthropologie lehrt. Als etwa die Bundeskanzlerin mitteilte, dass dieses Jahr Ostern, „traditionell ein Fest der Familie“, coronabedingt ausfallen müsse, habe sie eine Stellungnahme von kirchlicher Seite vermisst – etwa dazu, ob Ostern wirklich ein Familienfest sei. Sie ordne das einer gewissen Hilflosigkeit zu, sagte die Philosophin in der Sendung „Tag für Tag“ des Deutschlandfunks.
Mitscherlich-Schönherr fügte hinzu; „Dies hat viel damit zu tun, dass ein tradiertes Bild, mit dem man Pandemien theologisch interpretieren kann, nicht mehr funktioniert: nämlich das Bild der Strafe Gottes.“ Weder in der breiten Öffentlichkeit, noch in der Kirche würden noch viele eine Pandemie so erklären. „Dann ist diese Pandemie über uns hereingebrochen, es gibt diese Groß-Erzählung der Strafe Gottes nicht mehr, und dann wurde geschwiegen.“ Dabei könne sie diese Hilflosigkeit durchaus verstehen, so Mitscherlich-Schönherr: „Wir machen die Erfahrung, dass unser individuelles Wohl, ob wir überleben oder nicht, ob vielleicht unsere berufliche Existenz zusammenbricht oder nicht, einfach nichts zählt.“
Löblich: Gottesdienste, ohne Menschen zu gefährden
Dann habe das Bundesverfassungsgericht Vertretern der Muslime recht gegeben, dass ein flächendeckendes, prinzipielles Verbot der Gottesdienste nicht mehr haltbar sei. Erst da hätten sich auch die Kirchen zu Wort gemeldet. Die Kirche habe dann versucht, „liberal-pragmatisch“ Gottesdienste zu erlauben, ohne Menschen in Gefahr zu bringen. Mitscherlich-Schönherr lobte das Bemühen der Kirchen, sich in der Krise um Menschen zu kümmern: „Das ist eindrucksvoll, was hier passiert ist.“
Doch die Hilflosigkeit habe sich vor allem als eine „spirituelle Hilflosigkeit“ ausgedrückt, so die Philosophin. „Indem wir uns dieser wissenschaftlich-technischen Krisenbewältigung überlassen, blenden wir ab, dass es Spannungen gibt in einer technisch-wissenschaftlichen Krisenbewältigung mit etwas wie Glauben und Gottvertrauen.“ Die Krise spirituell zu deuten, dazu sei nicht einmal der Versuch unternommen worden, kritisiert Mitscherlich-Schönherr.
Die liberale Seite der Kirche biete nicht mehr die Deutung einer „Strafe Gottes“ an, sondern den Verweis auf den „wissenschaftlich-technischen Erfolg“. „Wissenschaftlich-technisch kriegen wir das hin, wir bewältigen, wir können es kontrollieren, wir haben künstliche Intelligenz, die kann uns genau sagen, wie sich die Pandemie entwickeln wird und so weiter.“
„Spiritueller Beitrag zum Immunsystem?“
Teilweise hätten Menschen aus der Kirche auch eine Art „Verschwörungstheorie“ propagiert, nach der es „irgendwelche dunklen Mächte des Bösen“ gebe, und das wirke „wie aus dem Hut gezaubert“. Mitscherlich-Schönherr: „Das ist natürlich genauso katastrophal“. Denn hier werde die eigene Unsicherheit und das Spirituelle „totgetrampelt“. Ein wissenschaftlich-technisches Weltbild dürfe als Ideologie nicht das Spirituelle verdrängen, ist sie überzeugt.
In der jüdisch-christlichen Tradition würden die eigene Unsicherheit sowie Fehler zugelassen. Im Alten Testament machten die Juden auf ihrem Weg mit Gott ständig Fehler, und im Neuen Testament umgebe sich Jesus „nur mit Versagern, mit Verbrechern und so weiter“. Mitscherlich-Schönherr weiter: „Es wird immer darauf Wert gelegt: Wir sind unsicher, wir wissen auch nicht genau, wie das Ganze gehen soll und wir tappen irgendwie darum herum. Und das hat mich angezogen an dieser Tradition.“ Die Kirche hätte an diese Tradition der Unsicherheit anknüpfen können. Mitscherlich-Schönherr: „Ich finde das eine interessante Frage: Gibt es so was wie einen spirituellen Beitrag zum Immunsystem? Also, wenn die Krise nicht nur eine biologische ist, sondern eigentlich eine gesamtheitliche Krise, also wenn wir nicht nur körperlich gefordert sind, sondern auch seelisch, auch geistig gefordert sind, dann müssen wir dieser Krise auch auf allen Dimensionen standhalten.“
Von: Jörn Schumacher