Die einstige thüringische Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat Kritik am Verhalten der Kirchen in der Corona-Krise geäußert. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt vom Dienstag sagte die einstige Pfarrerin: „Die Kirche hat in dieser Zeit Hundertausende Menschen alleingelassen. Kranke, Einsame, Alte, Strebende.“ Seit März seien 150.000 Menschen aus anderen Gründen als dem Coronavirus verstorben. „Wo war da das Wort der Kirchen?“
Zum Sterben vieler Menschen ohne die Anwesenheit von Angehörigen sagte die CDU-Politikerin: „Da wurde kein letzter Psalm gebetet, es gab keinen Trost, keine Aussegnung am Sterbebett.“ Nach Lieberknechts Einschätzung hätte es nach dem Infektionsschutzgesetz ein Recht für Geistliche auf die Begleitung von Sterbenden gegeben. „Dazu hätte ich mir ein klares Wort der Kirchen gewünscht“, sagte die ehemalige Ministerpräsidentin und verteidigte ihren Nachfolger im Amt, Bodo Ramelow (Linke). Ramelow hatte entgegen seiner eigenen Verordnungen verbotenerweise an der Beerdigung seiner Nachbarin teilgenommen. „Mit seiner Teilnahme hat er einem unhaltbaren Zustand Gesicht gegeben. Eigentlich wäre das die Aufgabe der Kirche gewesen“, kommentierte Lieberknecht das Handeln von Ramelow in dem Interview.
Lieberknecht bemängelte in dem Welt-Interview die prinzipielle Haltung der Kirchen in der Corona-Krise. Die Kirchen meldeten sich bei „gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen immer zu Wort“, hätten aber in der Corona-Krise geschwiegen. Die Kirche sei „nicht irgendeine zivilgesellschaftliche Organisation“, erklärte Lieberknecht in dem Gespräch, und weiter: „Viele Seelsorger fühlten sich von ihrer Amtskirche im Stich gelassen.“
Kirchen weisen Kritik zurück
Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, wies die Kritik Lieberknechts als ungerechtfertigt zurück. Die Kirchen hätten unter schwierigsten Bedingungen und Verboten das Mögliche getan, „um ihren Dienst zu tun und Gottes Wort auszurichten“, zitiert die Deutsche Presse-Agentur (dpa) den Ratsvorsitzenden. Lieberknecht tue den Seelsorgern Unrecht, nicht wenige hätten persönlich viel riskiert. Die „Schelte“ der CDU-Politikerin hält Bedford-Strohm demnach für „unangemessen“.
Auch der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, sagte der dpa, dass „das glatte Gegenteil“ zutreffe. Die Krankenhausseelsorger hätten „Unglaubliches geleistet“, ebenso die Sterbebegleiter der Kirche, erklärte Kopp.
Von: Norbert Schäfer