Offene Sexualmoral öffnete Tor für Missbrauchssysteme

Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Johann Hinrich Claussen, hat im Hinblick auf Missbrauchsskandale eine zu offene Sexualmoral in christlichen Gemeinden kritisiert. In einem Kommentar für die Zeit-Beilage Christ und Welt schreibt er, gerade in Kirchen, die sich im Zuge der 68er-Bewegung als besonders fortschrittlich verstanden hätten, seien so „althergebrachte Gebote des Anstands, der Sittlichkeit und der Distanz“ auf der Strecke geblieben.
Von Norbert Schäfer
In Deutschland sind einer Studie zufolge Hunderttausende von Kirchenmitarbeitern sexuell missbraucht worden

Der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, hat in einem Gastkommentar in der Zeit-Beilage Christ und Welt eine zu offene Sexualmoral in christlichen Gemeinden kritisiert.

Claussen zeigt sich in dem Beitrag selbstkritisch und nimmt die evangelische Kirche in den Blick, wenn er schreibt, dass „das Versprechen einer zeitgemäßen, unverklemmten, offenen Sexualmoral an manchen Orten zum Tor für postautoritäre Missbrauchssysteme“ wurde. In Gemeinden, die sich nach der Einschätzung Claussens in der Folge der 68er-Bewegung für „besonders fortschrittlich ausgaben“, seien „althergebrachte Gebote des Anstands, der Sittlichkeit und der Distanz“ aufgehoben worden, weil die „als vorgestrig, stur, lebensfeindlich“ galten.

In dem Gastbeitrag übt Claussen zuvor Kritik an Benedikt XVI. Der emeritierte Papst hatte in einer Veröffentlichung dem „Kulturumbruch von 68“ eine Mitschuld am sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche attestiert. Die Kritik an Benedikt ist der Ausgangspunkt für Claussen, um über „die dunkle Seite der sogenannten sexuellen Befreiung der Sechziger- und Siebzigerjahre“ und deren Auswirkungen auf die evangelischen Landeskirchen nachzudenken.

„Perfide und mächtige Gestalt menschlicher Bosheit“

Für wichtiger und sinnvoller als die Generalkritik an der 68er-Bewegung erachtet Claussen es, zu prüfen, „wo eigene Wahrnehmungsdefizite“ liegen. Er schreibt, dass „in geschlossenen konservativen Milieus – nicht nur in der katholischen Kirche – missbräuchliche Systeme“ entstehen können. Auch das Gegenteil eines „traditionell-autoritären Systems“ sei nicht davor geschützt, selbst zu „einem missbräuchlichen System zu werden“.

In dem Verständnis, sich selbst als antiautoritär zu sehen, hätten die evangelischen Kirchengemeinden verkannt, dass die „Ablösung von traditionellen Normen in ein neues System der Grenzverletzung münden“ konnte, schreibt er. Er räumt ein, dass „protestantische Milieus und evangelische Eliten“, etwa der Reformpädagogik und der Odenwaldschule, die von Pädokriminellen benutzt wurden, „das systemnötige Prestige“ verschafft hätten. Er empfiehlt eine gründliche Aufarbeitung dieses Kapitels.

Claussen erkennt in sexualisierter Gewalt „eine besonders erschreckende, perfide und mächtige Gestalt menschlicher Bosheit“. Es brauche Freiheit und Regeln, um ihr zu widerstehen, dazu „offenen Umgang miteinander, aber auch klare Verabredungen“.

Von: Norbert Schäfer

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