Zum 80. Mal jährt sich am Freitag die Reichspogromnacht von 1938, die vom nationalsozialistischen Regime organisierten Übergriffe gegen Juden. Deutliche Worte zu Antisemitismus und Gewalt gegen Juden fand am Donnerstagabend der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, während einer Gedenkveranstaltung der Stadt Würzburg und der jüdischen Gemeinde: Die Reichspogromnacht markiere „den Übergang von der rechtlichen Diskriminierung und sozialen Ausgrenzung der Juden zur offenen Verfolgung; ein Weg, der schließlich zur Schoah geführt hat“. Weiter sagte er: „Dass damals so viele – die meisten von ihnen waren Christen – weggeschaut oder tatenlos zugeschaut haben, erfüllt uns bis heute mit Scham.“
Der 9. November sei einer der denkwürdigsten Tage der deutschen Geschichte, erklärte Marx. Es ist nicht nur das Datum für die Ausschrietungen gegen Juden. Zwanzig Jahre davor wurde in Berlin die Republik ausgerufen, am Tag zuvor in München der Freistaat Bayern gegründet; am 8. und 9. November 1923 versuchte Hitler mit einem Putsch die parlamentarische Demokratie in bayern zu beseitigen; 1989 wurde in Berlin die Mauer geöffnet.
Demokratie eine gefährdete Staatsform
Wenn man die Reichspogromnacht im Zusammenhang mit den anderen Ereignissen sehe, werde deutlich, dass auch heute ein Gedenken sinnvoll und notwendig sei. „Die Ereignisse des 9. November zeigen, dass Rechtsstaat und Demokratie keine Errungenschaften sind, die einmal erworben werden und dann selbstverständlich sind. Die rechtsstaatliche Demokratie war und ist eine gefährdete Staatsform“, sagte der Kardinal. Der demokratische Rechtsstaat setze voraus, dass sich die Bürger im Alltag mit Respekt, Fairness und Wohlwollen begegnen, dass sie füreinander Verantwortung übernehmen und sich auch im Streit um Wahrheit und Wahrhaftigkeit bemühen. „Wo diese Werte missachtet werden, gerät das friedliche Zusammenleben in Gefahr. Es sind nicht erst Taten oder offenkundige Rechtsverstöße, die den Grundkonsens angreifen und beschädigen. Die letzten Jahre der Weimarer Republik zeigen uns deutlich: Die Verrohung der Sprache führt zur Verrohung der Sitten“, betonte der Kirchenmann.
Gemeinsam mit dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dem Würzburger Regierungspräsidenten Paul Beinhofer und Oberbürgermeister Christian Schuchardt würdigte er das jüdische Leben in Deutschland. Es sei ein Seismograph der deutschen Gesellschaft: „Gottlob drohen heute keine staatlich organisierten Pogrome. Heute stehen Polizeiwagen vor Synagogen, jüdischen Gemeindezentren, Kindertagesstätten und Schulen. Das ist beruhigend, aber normal ist es nicht.“
Bedford-Strohm: Juden gilt Gottes Verheißung
Eindringlich forderte Marx dazu auf, aus den Ereignissen von vor 80 Jahren zu lernen: „Wir dürfen nicht wegschauen, wenn Juden in welcher Form auch immer angegriffen werden. Wir sind verpflichtet, antijüdischen Vorurteilen zu widersprechen und antijüdischen Angriffen zu widerstehen. Das ist nicht nur eine Bürgerpflicht, es ist auch eine Christenpflicht.“ Papst Franziskus sage, dass ein Christ nicht Antisemit sein könne; Kardinal Marx fügte hinzu: „Ein Christ ist verpflichtet, solidarisch mit Juden zu sein.“
Auch Bedford-Strohm betonte am Abend, dass Antisemitismus geächtet werden müsse, und sieht auch die Kirche in der Verantwortung: „Wir werden einfach nicht zulassen, dass sich Menschen jüdischen Glaubens in unserem Land nicht zu Hause oder sich gar bedroht fühlen. Uns als Kirchen, die wir selbst viel Schuld im Hinblick auf unseren Umgang mit unseren jüdischen Geschwistern in der Vergangenheit auf uns geladen haben, kommt hierbei eine besondere Verantwortung zu.“
Für den Landesbischof resultiert „aus der unzweifelhaften Schuld der Christen damals“ eine klare Aufgabe: Christen dürften es nicht zulassen, dass Juden hierzulande in Unsicherheit, Gefahr und Angst leben. „Wir müssen alles tun, damit das dumme antisemitische Denken, Reden und Handeln von Alt- und Neonazis, aber auch aus der Mitte der Gesellschaft, bei uns keinerlei Chance und keinerlei Einfluss hat.“ Die Aufgabe sei es, Kinder und Jugendliche im Respekt vor allen Menschen, „auch und gerade vor den Menschen jüdischen Glaubens, die unter uns leben“, zu erziehen. Ihnen gelte weiterhin „Gottes Verheißung, dass sie zu dem Volk gehören, das Gott erwählt hat. Darum sind sie unsere Schwestern und Brüder.“
Von: Martina Blatt