Ein sonniger Herbst-Sonntag, kurz vor zehn Uhr Vormittag trudeln über 100 Leute in Wien-Floridsdorf ein. In einer Kirche, die „Begegnungszentrum“ heißt und von außen an ein großes Gasthaus erinnert. Drinnen weist nur ein schlichtes Holzkreuz darauf hin, dass es sich um mehr als einen Veranstaltungssaal handelt. Eine Band stimmt das erste Lied an, die Musik ist modern und wird elektronisch verstärkt, manche Besucher wippen mit. Der Prediger spricht davon, dass Jesus ein zweites Mal auf die Erde kommen wird.
Es sind junge Menschen da, auch ältere, einige Migranten – ein ganz normaler Ausschnitt der Bevölkerung. Etwas ist hier aber besonders. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hat sich in den vergangenen 50 Jahren auch in Österreich eine neue christliche Bewegung etabliert: die Freikirchen. Während die Katholische und die Evangelische Kirche seit Langem unter Mitgliederschwund leiden, sind die Freikirchen auf bis zu 40.000 Mitglieder angewachsen, jedenfalls laut Einschätzung des Grazer Theologen Christian Feichtinger. Genau kennt die Zahl allerdings niemand, denn die freikirchliche Szene ist unüberschaubar und zersplittert. Seit fünf Jahren sind die „Freikirchen“ in Österreich eine anerkannte Glaubensgemeinschaft.
Außen modern, innen konservativ
Es sind evangelisch geprägte Kirchen, locker im Stil und konservativ in den Inhalten. Mit Katholiken und Protestanten teilen sie die Bibel als wichtigste Glaubensgrundlage. Bei den Freikirchen handelt es sich um ein loses Netz an Gruppierungen, von den Evangelikalen über die Brüdergemeinden bis zur Pfingstbewegung, bei der showartige Gottesdienste keine Seltenheit sind. Ein wesentlicher Unterschied zu Katholiken: In Freikirchen werden keine Babys getauft, sondern nur Jugendliche und Erwachsene. Das ist die größte theologische Differenz.
Wie sind die Freikirchen einzuordnen? Als gefährliche Sekte oder als attraktive Religionsgemeinschaft? Wer eine fundierte Antwort auf diese Frage haben will, wendet sich am besten an Feichtinger. Der Theologe hat an der Universität Graz seine Doktorarbeit über die Freikirchen geschrieben. Feichtinger sagt: In der katholischen Kirche werden einzelne Pfarrgemeinden von übergeordneten Instanzen kontrolliert – vom Dechant bis hin zum Papst. In den Freikirchen sind die Ortsgemeinden stark, übergeordnete Strukturen aber schwach. Das birgt für Feichtinger die Gefahr, dass sich bei freikirchlichen Gemeinden sektenähnliche Strukturen ausbilden können: „Da können unter Umständen auch Negativeinflüsse, Druck, Überwachung, autoritäre Verhältnisse entstehen.“
Strenge Sexualmoral
Zu einem ähnlichen Urteil kommt Ulrike Schiesser, Psychologin bei der Bundesstelle für Sektenfragen. Sie ortet bei den Freikirchen „ein sehr intensives Gemeinschaftsleben und innige Verbundenheit“ unter den Mitgliedern. „Das hat immer Vor- und Nachteile“, sagt Schiesser. „Freikirchen wirken sehr modern, aber von den Grundlinien sind sie konservativer.“
Das zeigt sich etwa an der Geschichte der 21-jährigen Tiffany, einer Salzburgerin. Mit 13 freundete sie sich mit einer freikirchlichen Schulkollegin an und ließ sich von ihr in den Teeniekreis – eine Art Jungschar – einladen. „Ich habe es interessant gefunden, dass die da in der Bibel lesen.“ Die freikirchliche Gemeinschaft gefiel ihr wesentlich besser als das katholische „Pflichtkirchengehen“. Außerdem: „Sie sind alle so liebevoll miteinander umgegangen.“ Tiffany war regelmäßig im Teeniekreis und nahm dafür in Kauf, dass sie von Freunden und Familie wegen ihrer neuen Religiosität „sehr belächelt wurde“. Doch die Anziehungskraft des Teeniekreises schwand: „Ich habe begonnen, mich für Buben zu interessieren, für Partys.“ Im Teeniekreis erlebte sie eine strenge Sexualmoral, Sex vor der Ehe lehnten die allermeisten ab. Heute ist Tiffany 21 und sagt: „Es würde mich immer noch reizen, zu Freikirchen zu gehen – aber es passt nicht mit meinem Lifestyle zusammen.“
Öffentlich für eigene Werte eintreten
Die Geschichte von Tiffany zeigt: Freikirchliche Christen vertreten ein gesellschaftspolitisch konservatives Weltbild. Sie glauben fest daran, dass die Bibel von Gott inspiriert ist und dass Gott unabhängig vom Zeitgeist existiert. Das macht sie auch zu Kritikern von Homo-Ehe und Abtreibung.
Zu den Werten steht Reinhold Eichinger, Ratsvorsitzender des Bündnisses „Freikirchen in Österreich“. Er sagt: „Unser Maßstab ist nicht der Mainstream, unser Maßstab ist die Heilige Schrift, und da gibt es ein klares Bekenntnis zum Schutz des Lebens, zur Ehe, zur Familie.“ Eichinger meint auch: „Wir suchen nicht die militante Auseinandersetzung, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir für diverse Werte eintreten.“
Nicht nur in den Kirchen, auch in der Politik. Das beste Beispiel dafür ist Gudrun Kugler. Die gläubige Wienerin zog bei der Nationalratswahl 2017 für die ÖVP ins Parlament ein – und hat das zu einem Gutteil Anhängern der Freikirchen zu verdanken, auch wenn Kugler selbst Katholikin ist: Denn sie erhielt ihren Sitz über einen erfolgreichen Vorzugsstimmenwahlkampf, der ihr ein Grundmandat in Wien-Nord verschaffte – den trans-danubischen Bezirken Floridsdorf und Donaustadt. Das ist ein freikirchlicher Hotspot: In dem 350.000-Einwohner-Gebiet gibt es laut Reinhold Eichinger – der selbst dort wohnt – gleich 14 freikirchliche Gemeinden, aber nur eine evangelische. Kugler: „Generell war in meinem Wahlkampf die Unterstützung durch christlich inspirierte Gruppen stark spürbar.“ Kugler fällt innerhalb der ÖVP durch ausgeprägt konservative Positionen auf, ist etwa eine ausgeprägte Abtreibungsgegnerin.
Freikirchen nicht mehr Gegner, sondern Partner
Die Freikirchen gewinnen Akzeptanz bei den traditionellen Kirchen. Der evangelische Pfarrer Thomas Dopplinger sieht schwindende Berührungsängste: „So langsam ist der Kontakt zu den Freikirchen vom Sektenreferat ins Ökumenereferat gewandert.“ Der Wiener gilt als Verbindungsmann der Evangelischen zu den Freikirchen. Er schätzt, dass in Wien inzwischen mehr Menschen freikirchliche Gottesdienste besuchen als evangelische.
Dass die Freikirchen in den letzten 40 Jahren gewachsen sind, beeindruckt auch Würdenträger der Katholischen Kirche. Im Jänner 2011 lud Kardinal Schönborn die Chefs der Freikirchen nach Passau. Und wollte wissen: Warum wachsen die Freikirchen? Die Antwort der Freikirchler: Sie würden den Leuten bloß aktiv das Evangelium verkünden. Laut Diakon Johannes Fichtenbauer – der zum engeren Umfeld des Kardinals gehört – habe Schönborn daraufhin beschlossen, die Freikirchen nicht mehr als Gegner, sondern als Partner zu sehen.
Freikirchen als relevante Größe
Schönborn selbst erinnert sich gegenüber profil: Auf der Klausur hätten die Vertreter der Freikirchen „ein sehr beeindruckendes und überraschendes Zeugnis abgelegt. Ich halte das für sehr wichtig, weil wir auf diese Weise aus den manchmal eingefahrenen Wegen herauskommen und neue Zugänge zur Verkündigung kennenlernen.“
Die Freikirchen haben sich in Österreich in den vergangenen 50 Jahren von de facto null zu einer relevanten Größe entwickelt. Allerdings: Selbst wenn es 40.000 freikirchliche Christen gibt, macht das nur knapp ein halbes Prozent der österreichischen Bevölkerung aus – im weltweiten Vergleich ist das fast nichts. In Brasilien etwa stellen die Freikirchen inzwischen 20 Prozent der Bevölkerung, auch in den USA und in vielen afrikanischen Ländern spielen sie eine gewichtige Rolle und mischen in der Politik kräftig mit.
In Wien-Floridsdorf geht der Gottesdienst nach eineinhalb Stunden zu Ende. Viele zieht es noch nicht heim. Es gibt ein Kuchenbuffet für alle.
Von: Raffael Reithofer
Dieser Text erschien unter der Überschrift „Glaubensfreiheit“ zuerst in der Ausgabe Nr. 40/2018 des österreichischen Magazins profil.