Der Strand an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste bei Niendorf leert sich. Immer noch ist es heiß an diesem Julitag, und letzte Urlaubsgäste suchen Abkühlung in der Ostsee. Auf der Seebrücke sind drei Halbkreise mit Sitzreihen, einem Amphitheater gleich, nach Westen ausgerichtet und bieten den Urlaubsgästen ein beeindruckendes Naturschauspiel. Die rotglühende Sonnenscheibe nähert sich zügig und unaufhaltsam der Horizontlinie. Dazu der Rhythmus der Wellen, die Weite des Meeres, das in der untergehenden Sonne verheißungsvoll schimmert.
Das abendliche Schauspiel nutzt Strandpastorin Katharina Gralla für ihre Andacht, der „Atempause am Meer“. Am Ende der Seebrücke hat Gralla dafür eine kleine Lautsprecheranlage aufgestellt und ein Holzkreuz platziert. Mit den Anglern und ihren Geräten muss sie sich arrangieren. Der Wind zerzaust ihr die schulterlangen Haare und wirbelt den Talar durcheinander, aber das stört die Pastorin der Kirchenregion Strand der Nordkirche nicht. Sie begrüßt die Zuhörer herzlich. Rund 130 Menschen sind an diesem Donnerstag gekommen und nehmen Platz am Ende der Seebrücke, begleitet von Gitarrenklängen von „Nothing else matters“ und mit Kerzen und Liedheften ausgestattet. Gemeinsames Singen. Lesung eines Bibeltextes. Die Pastorin erzählt eine kurze nachdenklich stimmende Geschichte. Stille. Das Vaterunser. Als die Sonnenscheibe bei Querflötenmusik das Meer berührt, versinken viele der Anwesenden vor der gewaltigen Kulisse in Gedanken, richten den Blick auf den Horizont. „Was wirklich wichtig ist“ ist das Thema an diesem Abend. „Wir bieten ein niedrigschwelliges Angebot“, sagt Gralla. „Die Menschen haben im Urlaub Zeit und erinnern sich an Dinge, für die sonst im Alltag wenig Zeit bleibt.“
Die Pastorin sagt: „Das Meer ist ein Ort, an dem sich Menschen durch die Weite andere Gedanken machen als zuhause.“ In den abendlichen Andachten behandelt sie deshalb vor allem existenzielle, zentrale Lebensfragen. „Ich glaube, dass Menschen im Urlaub für derlei Fragen offener sind, wenn sie die Seele einmal baumeln lassen können.“ Urlaub, Natur, Meer und Weite spielen der Pastorin in die Karten. „Ich muss lediglich die Impulse setzen, die Situation mit Deutung und Sinnangeboten füllen.“ Die gewisse Anonymität am Urlaubsort führe dazu, dass Menschen Andachten und Gottesdienste besuchten, die das zuhause eher selten täten.
Das hat auch Johannes Höpfner, Gemeindepastor in Niendorf, beobachtet. Zu seinen 1.600 Gemeindegliedern zählen noch 500 bis 600 Personen, die hier ihren Zweitwohnsitz haben. Viele der Touristen gehen sonntags in die Petri-Kirche. „Pfingsten war die Kirche rappelvoll. Dreiviertel der rund 250 Gottesdienstbesucher waren Gäste“, schätzt er. Januar und Februar ist keine Saison. Dann sind auch schon mal nur 30 Besucher im Gottesdienst. „Der Urlaub ist das Highlight, auf das man sich das ganze Jahr freut. Ich habe den Anspruch, den Urlaubern etwas Besonderes mitzugeben“, sagt Höpfner. Er will mehr bieten als Sommerkonzerte und kulturelles Programm.
In seiner Gemeinde herrscht größtenteils Freude darüber, dass das Kirchenschiff sonntags mit Touristen gefüllt ist und Menschen nach Gottes Wort fragen. Dann sei auch der Gesang kräftig. Dafür ist er dankbar, denn von Kollegen anderer Gemeinden an der Küste hat er Gegenteiliges gehört. Etwa, dass Gemeindemitglieder dort kritisieren: „Für die Gäste wird alles getan und für unsere eigenen Leute, da tut man viel zu wenig.“ „Da wird einer Konkurrenz das Wort geredet“, sagt Höpfner kopfschüttelnd, die er aus Niendorf nicht kenne – so eine Art untergründiges Gegeneinander. Seine Petri-Kirche hat seit ihrer Grundsteinlegung 1898 Erfahrung mit Touristen. Damals hatte ein Lübecker Pfarrer die Kirche auf private Inititative hin für die steigende Zahl der Sommergäste gebaut. Erst 1946 wurde Niendorf offiziell zur Kirchengemeinde erhoben.
Da der Pfarrer nicht weiß, welche Form des Glaubens die meisten Touristen praktizieren, hat er beide große Konfessionen im Gottesdienst im Blick. „Ich habe es mir angewöhnt, dass ich mindestens eine Bitte im Fürbittengebet für die katholischen Glaubensgeschwister formuliere“, erklärt Höpfner. Er führt Taufen und Trauungen auch am Strand durch. Oft ist das Meer nur Kulisse, dann wieder Handlungsort. Etwa wenn er im Meer mit Ostseewasser tauft. Oder wenn er für Seebestattungen angefragt ist.
Bevor Gralla vor zwei Jahren die Stelle als Strandpastorin antrat, hatte Höpfner die Befürchtung, dass so etwas wie Konkurrenz zwischen den beiden Geistlichen aufkommen könnte. „Als ich die Kollegin kennen lernte, war der Gedanke gar nicht mehr da. Ich empfinde sie als große Bereicherung“, sagt der Gemeindepfarrer. „Man ist ja gerne auch mal Hörender. Das hat man nicht so oft als Gemeindepastor.“ Er geht selber gerne zu den Seebrückenandachten seiner Kollegin. Allerdings in Zivil.
Ostsee-Andachten mit besonderem Charme
Sabine Krüger kommt sonst zum Yoga auf die Seebrücke. Mit dem Meer ist auch ihre Familiengeschichte verbunden. Nach mehr als 30 Jahren in Berlin ist sie zurück gekommen an die Küste. Sie findet es schön, dass sich bei der Seebrückenandacht Einheimische und Urlaubsgäste mischen. „Es ist selten, dass man etwas gemeinsam macht.“ Von der Andacht auf der Seebrücke hatte sie gelesen und will einer Freundin aus Finnland, die sie besucht und die an dem Tag Geburtstag hat, etwas Besonderes bieten.
Als Gralla und Höpfner an diesem Abend den Heimweg antreten, ist es bereits dunkel. Auf der erleuchteten Seebrücke schlendern nur noch vereinzelt Pärchen über die nun nachtschwarze Ostsee. Auch die Angler haben längst ihre Sachen zusammengepackt. Das Meer rauscht bedächtig und spült dabei Sinnfragen für die kommenden Gäste an den Strand.
Dieser Text ist in der Ausgabe 4/2018 des Christlichen Medienmagazins pro erschienen. Bestellen Sie pro kostenlos hier.
Von: Norbert Schäfer