An der hölzernen Tür der roten Backsteinkirche klebt ein Zettel: „Bitte Kirchentür geschlossen halten!“ Wer in den kleinen Vorraum der St. Nikolai-Kirche tritt, hört Gesang. Am Fuß des Chorraums sitzen zwölf Sängerinnen und Sänger mit aufgeschlagenem Gesangbuch. Schräg vor ihnen sitzt Kantor Hannes Ludwig am E-Piano und begleitet den Choral „O dass doch bald dein Feuer brennte“. Es ist die Nummer 255 im Evangelischen Gesangbuch. Die digitale Uhr auf dem Tisch mit dem Aufzeichnungsgerät zeigt Montagvormittag, 10:45 Uhr, an: Halbzeit nach knapp 21 Stunden Gesangsmarathon.
Die Männer und Frauen singen alle neun Strophen des Chorals einstimmig, in ruhigem und gleichmäßigem Tempo. Wer ein oder zwei Stunden am Stück Lieder singt, muss mit der Stimme haushalten, weiß Kantor Ludwig. „Man muss eine gute Balance finden, dass man nicht alles in forte durchballert.“ Am Sonntag vor dem Reformationstag fiel um 14 Uhr der Startschuss. Mit dem Adventsklassiker „Macht hoch die Tür“ ging es los, laut Ludwig gleich mit einer schweren, weil sehr hohen Tonart. „Am Anfang war das fast schon wettbewerbsartig, dass die Sänger unter Hochspannung standen und das irgendwie gut singen wollten. Aber diese Aufregung und das Hektische wurden immer weniger. Besonders in der Nacht war es eine unglaubliche Stimmung, ganz meditativ.“
Neue Kategorie im Guiness-Buch der Rekorde
Tag und Nacht singen, alle 535 Lieder aus dem Hauptteil des Gesangbuchs, wie es in jeder deutschsprachigen Evangelischen Kirchengemeinde ausliegt. Wie kommt man auf so eine ungewöhnliche Idee? „Als abzusehen war, dass Hunderte Luther-Oratorien über uns kommen, habe ich gedacht: das ist nicht so meins, da muss ich irgendwas machen, was mir selber auch Spaß macht“, sagt Hannes Ludwig. Der gebürtige Stralsunder ist seit zehn Jahren Kirchenmusiker in der Evangelischen Kirche in Prenzlau und Kreiskantor für den Kirchenkreis Uckermark. „Dann habe ich überlegt, was für Luther wichtig war, und Singen war so ein Ding, was für ihn ganz vorne stand. Da kam mir die Idee: Warum sollten wir nicht diesen reichen Schatz an Liedern mal komplett durchsingen?“ Er selbst kenne auch noch nicht alle Ecken des Gesangbuches, gesteht der 43-Jährige.
Die Anfrage bei „Guiness World Records“ war der nächste Schritt. Zwei Jahre Vorlauf brauchte das, die Kategorie „Dauersingen christlicher Choräle“ wurde für die Prenzlauer Aktion neu geschaffen. Bedingung: Es müssen jederzeit mindestens zwölf Sängerinnen und Sänger mitmachen. Um den Montagmittag herum sind es in der Prenzlauer Backsteinkirche allerdings einmal nur zehn. Der Mitschnitt des Singe-Marathons wird als Beweis eingereicht, man müsse sehen, wie das bewertet würde, meint Hannes Ludwig. Ihm selbst sei es letztlich nicht so wichtig, ob es einen Guiness-Eintrag gebe. „Wichtiger ist eigentlich, dass die Lieder gesungen werden und die Leute sich mit den Texten auseinandersetzen. Da ist ja enorm viel dabei, was völlig unbekannt ist und wahrscheinlich sehr selten jemanden erreicht.“
Den Reformator würde es sicher freuen, glaubt Ludwig. Vielleicht hätte er sich sogar selbst in die Reihen der Sänger gestellt und tatkräftig mitgemacht. Hin und wieder hat sich auch in der St. Nikolai-Kirche jemand spontan mit dazugestellt. Vor allem aber singen dort angemeldete Chöre, teils aus Prenzlau, teils aus Brandenburg, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Knapp zwanzig Chöre mit insgesamt rund 400 Sangesfreudigen sind bei der Gesamtaktion dabei. Kantor Ludwig hat einen akribischen Zeitplan mit den Chören und ihren stündlich geplanten Liedern aufgestellt.
Es gibt auch Zuhörer
Ulrike Meyer ist aus Woldegk-Hinrichshagen in Mecklenburg-Vorpommern angereist und hat von sechs bis acht Uhr morgens und dann nochmal am Vormittag eine Stunde gesungen. Die dunkelhaarige Frau ist Mitglied der Prenzlauer Kantorei und hat sich nicht extra auf unbekannte Lieder vorbereitet. „Ich singe oft und seit meiner frühen Kindheit Choräle und weiß, dass man da schnell reinkommt.“ Sie ist begeistert. „Was ich schön finde: dass es einfach viele Menschen versammelt, die gemeinsam diesen gesamten Liedschatz durchsingen. Es geht darum, möglichst viele Menschen zusammenzubringen, die die Choräle im Gedenken an Luther singen, der ja das Choralsingen begründet hat und auf den das heutige Gesangbuch zurückgeht.“
Ursula Vahle singt seit dreißig Jahren in der Kantorei mit. Auch sie war morgens um sechs dabei und ist nun etwas heiser. „Jetzt muss ich erstmal ausspannen und was für den Hals nehmen!“, sagt die 75-Jährige lachend. Von dem Rekordsingen ist sie inzwischen überzeugt. „Erstmal waren wir alle ein bisschen schockiert: Das packen wir nicht! Aber dann hat uns der Hannes Ludwig doch motiviert und gesagt: Das schafft ihr, das könnt ihr, wir packen das an!“ Dorina Heß ist mit ihrem Templiner Chor gekommen. „Ich find das schon eine spaßige Idee und bin jetzt gerade überrascht, dass hier tatsächlich Leute sitzen, die sich das anhören!“ Rund zwanzig Besucher sitzen in der Mittagszeit im Kirchenschiff, singen oder summen mit oder hören einfach nur zu.
Zum Abend hin werden es mehr, zeitweise sogar achtzig bis hundert. Barbara Siegel geht in den Frauenkreis der Kirche und wollte mal reinschauen. „Da muss man schon dabei sein, wenn klappt!“, sagt die 75-Jährige. „Der Kantor Ludwig hat immer sehr gute Ideen“, findet auch die Prenzlauerin Christa Schmöckel, die nach dem Sport vorbeikommt. Drei junge Leute sind mit dem Rad auf der Durchreise, wollten sich eigentlich nur mal die Kirche ansehen und hören eine Weile zu. „Faszinierend, was die Leute hier durchziehen“, sagt einer von ihnen. Mit Kirche habe er eigentlich nichts zu tun, ihm gefalle aber die Kirchenmusik.
41,5 Stunden Gesang
Im ausliegenden Gästebuch können sich Mitwirkende und Besucher der Aktion eintragen. „Es ist ein erhebendes Gefühl, als Chorsänger dabei zu sein und viele Lieder zum Lob Gottes zu singen!“, schreiben Manfred und Johannes Arndt. „So konnte ich nochmal Himmelfahrt und Pfingsten feiern – musste ich doch dieses Jahr an diesen beiden Festen arbeiten“, hat eine Sylvia um 0:32 Uhr eingetragen.
Für Kantor Hannes Ludwig sind die einundvierzigeinhalb Stunden Nonstop-Singen, die es letztlich werden, eine Zeit mit wenig Schlaf. Große Strecken davon hat er auf Orgel oder E-Piano begleitet. In der zweiten Nacht greift er bis in den frühen Morgen in die Tasten, wird von zwei bis vier Uhr noch einmal abgelöst und spielt dann wieder ab 4 Uhr. Um Punkt 7:33 Uhr ist das Rekordsingen zu Ende. Lied Nummer 535 im Gesangbuch: „Gloria sei dir gesungen“, ein klassischer Bach-Satz, kurz und festlich. Müde und hungrig sei er, gesteht der Kantor am Morgen des Reformationsjubiläums. Froh, dass es vorbei sei, aber auch sehr dankbar: „Darüber, dass die Chöre so mitgemacht haben, dass es keine Lücken gab, dass der zeitliche Ablauf so war wie vorausberechnet. Es ist ein sehr schönes Gesamtergebnis. Da können alle Beteiligten sehr stolz drauf sein!“ Ob es mit dem Guiness-Rekord geklappt hat, wird er wohl erst nach einer ganzen Weile erfahren. Aber das ist wohl letzten Endes zweitrangig.
Von: Christina Bachmann