Ich habe die Absicht, nach dem Exempel der Propheten und der alten Väter der Kirche deutsche Psalmen für das Volk herzustellen, das heißt, geistliche Lieder, damit das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe. Wir suchen daher überall Dichter …“ So beginnt Martin Luther Ende 1523 einen Brief an seinen Freund Georg Spalatin. Luther hat bereits begonnen, Lieder und Psalmen zu schreiben – und er wird kaum ahnen, was dieser Brief auslöst: Ein wahrer Liederfrühling setzt ein. Viele Lieder werden gedruckt, auch ohne Nennung eines Verfassers. In Nürnberg und Erfurt erscheinen Liederbücher.
Johann Walter, der als der evangelische Ur-Kantor bezeichnet wird, veröffentlicht im Jahre 1524 ein mehrstimmiges Chorgesangbuch. Der Drucker Josef Klug gibt in Luthers Auftrag das sogenannte Klugsche Gesangbuch heraus. Eines der Originale von 1533 ist noch erhalten. Es ist etwa elf mal neun Zentimeter groß und drei Zentimeter dick – handlich und inhaltlich prägend für Jahrhunderte. Lieder zum Kirchenjahr machen den Anfang, es folgen zahlreiche Psalmlieder, selbst das Lied zum Gedächtnis der evangelischen Märtyrer zu Brüssel von 1523 ist vorhanden. Auch das erste Lied einer evangelischen Liederdichterin, „Herr Christ der einig Gotts Sohn“, steht in diesem Buch, leider fehlt der Name der Dichterin Elisabeth Crutziger. Luther fügt dem Gesangbuch Gebete, liedhafte Stücke der Bibel, etwa das Magnificat und den Psalm des Jona, und Bilder bei. Ein paar Lieder oder liturgische Stücke lassen sich sogar mehrstimmig singen.
Kirchenmusik wird zum Politikum
Auch die evangelische Kirchenmusik erlebt ihren Frühling. Nachdem das Neue Testament und die Psalmen in deutscher Übersetzung vorliegen, wagen sich die Komponisten an bis daher Unbekanntes heran: Psalmvertonungen in deutscher Sprache. Thomas Stoltzer, David Köler und andere Komponisten, die sich von Luthers Psalmenübersetzung im wahrsten Sinne des Wortes ansprechen lassen, schaffen Psalmenmotetten, die in Drucken und Abschriften Kreise über Mitteldeutschland und die Kernlande der Reformation hinaus ziehen. So hörten die Hörer das vertonte biblische Wort in ihrer Muttersprache Deutsch – und das zu einer Zeit, in der die Gelehrten und die Kirche Latein sprachen, für die einfache Bevölkerung unverständlich. Und die Motetten redeten vom Beter, der Gott klagt, was seine Feinde ihm antun wollten und was Gott dagegen unternehmen soll.
Wer etwa die großen und reich besetzten „Psalmen Davids“ von Heinrich Schütz kennt, macht sich kaum eine Vorstellung, in welchem kämpferischen Zusammenhang die ersten deutschen Psalmenmotetten entstanden sind und welche politische Brisanz darin lag.
Die Musik dient dem Text
In den Liedern der Reformation geht es um das Wort Gottes, um Gottes Handeln in Jesus Christus, die Erlösung durch ihn. Ob im kernigen „Ein feste Burg ist unser Gott“, dem lehrhaften „Es ist das Heil uns kommen her“ oder dem meditativen „Herr Christ der einig Gotts Sohn“ – überall steht Gottes Handeln im Zentrum. Da müssen Text, Melodie und Chorsatz dem Wort folgen. „Es mus beyde text und notten, accent, weyse und geperde aus rechter mutter sprach und stymme komen, sonst ists alles eyn nachomen, wie die affen thun.“ Text und Musik sollen nach Luthers Überzeugung eine Einheit bilden. Die Noten machen den Text lebendig, sie dienen den Worten. Heinrich Schütz und Melchior Franck, Samuel Scheidt und Johann Hermann Schein haben im 17. Jahrhundert mit ihren Kompositionen, sowohl in Chorwerken wie auch in gesangbuchtauglichen Liedern, diese Linie Luthers verfolgt. Auch Liederdichter stehen in dieser Tradition, allen voran Paul Gerhardt. Er setzt in seinen Texten gerne ein betontes „ich“ ein, doch ist das nicht einfach individuell zu verstehen, sondern stets mit der ganzen Kirche, der Gemeinde im Hintergrund. Er nimmt Luthers Erkenntnis ernst, dass in Jesus Christus Gott sich ganz für ihn persönlich und jeden Menschen eingesetzt hat. Sein Lied „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“ ist das beste Beispiel dafür.
Im 18. und 19. Jahrhundert folgen manche Dichter und Komponisten den von Luther und Gerhardt gelegten Spuren. Natürlich fällt uns zunächst Johann Sebastian Bach ein. Aber es sind vielfach Kantoren wie er, die noch zwei Jahrhunderte nach der Reformation lutherische Theologie in musikalische Form bringen. Parallel dazu gibt es aber in musikalischer wie theologischer Hinsicht gegenläufige Entwicklungen. Die Aufklärungszeit versucht, ihre Korrekturen an den alten Liedern anzubringen oder bessere zu dichten, der Pietismus versucht, das Erbe der Reformation und die persönliche Frömmigkeit zu vereinen. Auch gibt es noch große, „biblische“ Chorwerke, zum Beispiel Felix Mendelssohn-Bartholdys „Elias“ oder „Paulus“, aber die sind aus der Kirche längst in den Konzertsaal umgezogen, wie auch dessen „Reformationssinfonie“.
Gottes Handeln im Mittelpunkt
Immerhin: Die Lieder der Reformation sind auch noch im 19. wie im 20. Jahrhundert präsent und reizen Komponisten zu großformatigen Werken, etwa Max Regers Choralfantasie „Ein feste Burg“ für Orgel. In der dunklen Zeit des Kirchenkampfes während des Nationalsozialismus dichtete Jochen Klepper („Der du die Zeit in Händen hast“, „Die Nacht ist vorgedrungen“) unpathetische, ganz an der Bibel erlernte Lieder, die die schwülstige (Lieder-)Dichtung des 19. Jahrhunderts vergessen lassen. Die Wiederentdeckung biblischer Grundlagen für die Liederdichtung beflügelte auch einige Dichter der jüngeren Zeit, die durch Übersetzung fremdsprachiger Lieder aus Ländern der Reformation ihre eigenen Gesangbücher bereicherten.
Psalmlieder finden sich heute sowohl in charismatischen wie in klassisch-landeskirchlichen Gottesdiensten. Elemente des Jazz – wie bei dem zeitgenössischen Komponisten Heinz-Werner Zimmermann, der ganz im Sinne Luthers die Musik in den Dienst des Textes stellt – und des Pop haben ihren Weg in die Kirchenmusik gefunden. Der Einfluss der lutherischen Reformation lässt sich noch heute unschwer ausmachen: Wo das Handeln Gottes im Mittelpunkt steht – im Gegensatz zu der Gefühlswelt, wie sie auch in vielen neueren Gesangbüchern vorherrscht –, ist mit Blick auf das reformatorische Erbe in der Musik noch nichts verloren.
Von: Siegfried Meier