Biblisch gesehen sei es nicht möglich, eine klare Wertung über Homosexualität abzugeben. Zu diesem Ergebnis kommen der Alttestamentler Stefan Schorch (Halle) und der Neutestamentler Eckart Reinmuth (Rostock). Im Rahmen der Theologischen Tage an der Martin-Luther Universität Halle/Wittenberg widmeten sich beide dem Thema Sexualethik aus bibelwissenschaftlicher Sicht.
Der Grund für diese Annahme liege in erster Linie an der Uneindeutigkeit der Bibel, erklärte Reinmuth. Es sei „Blödsinn“ zu behaupten: „Die Bibel sagt das und das zu einem Thema.“ Vielmehr spiegele sich in den Texten eine Vielfalt an Perspektiven im Bezug zur Sexualität wider. Deshalb müsse man als Leserschaft gemeinsam einen Dialog aufnehmen. Dieser müsse „reflektiert, verständlich und informiert“ geführt werden. So könne man den Widersprüchen innerhalb der Bibel begegnen – beispielsweise bei der biblischen Bewertung der Homosexualität.
Bibelwissenschaft als Schlüssel
Eindeutige Antworten werde man innerhalb dieser Debatte jedoch nicht finden, so der Alttestamentler Schorch. Dabei stehe nicht die Heilige Schrift selbst in Frage – diese sei unstrittig. Vielmehr gebe es stattdessen große Unterschiede in der Auslegung der Bibel. Ursache dafür sei, dass kaum ein Bewusstsein für die „Vielfalt und Tiefe der Texte“ existiere.
Die Betrachtung des historischen Kontextes damals und des kulturellen heute würde nicht in eine Bewertung des Textes einfließen. Das Problem in aktuellen Diskussionen liege darin, dass immer gewisse Schwerpunkte gesetzt und Gewichtungen biblischer Texte vorgenommen würden – sowohl in Freikirchen als auch in Landeskirchen. Eine Rolle bei der Bewertung der Bibeltetxte spiele beispielsweise der unterschiedliche Stellenwert von Alten und Neuem Testament. Dabei existiere keine Grenze zwischen den beiden Teilen der Bibel. Kirchliche Herausforderungen benötigten immer eine theologische Betrachtung. Die Bibelwissenschaften würden diese gewährleisten und die Brücke zwischen den Testamenten schlagen.
„Lesen Bibel harmonistisch“
Reinmuth schlägt daher vor, die Bibel „ganz wörtlich“ zu nehmen. Das bedeute nicht, sie salopp zu lesen, so der Neutestamentler. Vielmehr fordere er ein genaues Lesen, ohne Auslassen und unter Berücksichtigung der verschiedenen Kontexte. Christen heute hätten sich „eine harmonistische Leseart angewöhnt“. Das heiße, dass Gläubige Widersprüchen in der Bibel aus dem Weg gingen. Dies sei schädlich für das Schriftverständnis. Daher plädiere er, wieder mehr über Widersprüche der Bibel zu sprechen. Das sei keine Beeinträchtigung, sondern vielmehr eine Bereicherung.
Die Theologischen Tage 2020 werden vom Institut der Bibelwissenschaften organisiert. Sie finden jedes Jahr im Januar statt.
Von: Martin Schlorke