Michael Blume warnt vor antisemitischen Hetzschriften im Internet

Ein Mann hat am Samstag in einer Synagoge in Kalifornien das Feuer eröffnet, eine Frau getötet und drei weitere Menschen verletzt. Der Beauftragte der Landesregierung von Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, Michael Blume, sieht darin ein Beispiel dafür, wie sich antisemitischer Hass im Internet radikalisiert.
Von Jörn Schumacher
Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung von Baden-Württemberg, Michael Blume, warnt vor antisemitischen Hetzschriften im Internet und vor einer Radikalisierung von Hass über das Netz

Ein mit einem Gewehr bewaffneter Angreifer ist am letzten Tag des jüdischen Pessachfestes am Samstag in die Synagoge der orthodoxen Chabad-Bewegung in Poway nördlich der Stadt San Diego eingedrungen und hat um sich geschossen. Eine Frau starb, unter den drei Verletzten ist auch der Rabbiner der Gemeinde. Der mutmaßliche Schütze wurde festgenommen. Wie die Deutsche Presse-Agentur (dpa) unter Berufung auf den Polizeichef von San Diego berichtet, handelt sich um einen weißen, nicht vorbestraften 19-Jährigen aus der Stadt.

Der Sheriff im San Diego County, Bill Gore, sagte laut dpa, man prüfe, ob eine im Internet veröffentlichte Hetzschrift, die unter dem Namen des Festgenommenen verfasst wurde, authentisch sei. In dem antisemitischen Pamphlet schreibt der Autor, er sei von Brenton Tarrant inspiriert worden, dem mutmaßlichen Attentäter im neuseeländischen Christchurch. Der Rechtsextremist soll für den Anschlag auf zwei Moscheen mit 50 Toten verantwortlich sein.

Nach jüngsten Statistiken der Bundespolizei FBI haben Hassverbrechen in den USA 2017 im Vergleich zum Vorjahr um 17 Prozent zugenommen. 2017 registrierten die Behörden 7.175 solche Verbrechen. 1.679 davon wurden als religiös motiviert eingestuft. Von diesen Taten richteten sich wiederum 58 Prozent gegen Juden, 18 Prozent gegen Muslime.

Antisemitische Hetzschriften im Internet

Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung von Baden-Württemberg, Michael Blume, sieht einen Zusammenhang zwischen der Tat und einer Radikalisierung in den digitalen Medien, deren Hass sich nun auf die Straße ergießt. Auf Anfrage von pro nach der Bedeutung des Internet für modernen Antisemitismus sagte Blume: „Wie frühere, neue Medien des Buchdrucks und der elektronischen Medien Radio und Film auch trägt das Internet am Anfang des 21. Jahrhunderts zu einer stärkeren Verbreitung von Bildern und Emotionen bei.“ Früher hätten die Leute etwa an Hexen oder jüdische Ritualmorde geglaubt, „weil sie Drucke dazu zu sehen bekamen, oder an die Verschwörung durch Johann Süß Oppenheimer, weil ihnen ‚Jud Süß‘ in den Kinos gezeigt wurde“. Auch heute profitierten Antisemiten von diesen Effekten.

„Dafür nutzen sie inzwischen flächendeckend das Internet, von anonymen Foren wie 8chan über Facebook, Twitter und vor allem YouTube bis hin zu geschlossenen WhatsApp-Gruppen und zunehmend auch Wikipedia.“ Terroristen planten ihre Taten, um ihre eigene, digitale Gefolgschaft zu beeindrucken und anzustacheln, so Blume. So habe der mutmaßliche Angreifer auf die Synagoge in Potway geplant, seinen Angriff live im Internet zu streamen – wie der Attentäter auf die Moscheen in Christchurch. Blume weiter: „Das weltweite Anwachsen rechtspopulistischer und islamistischer Bewegungen geht wesentlich auf digitale Medien zurück.“ Einen Grund dafür sieht er in der Mediennutzung: „Schon jetzt nehmen junge Menschen Kommunales über das Internet kaum mehr wahr und konzentrieren sich entsprechend stärker auf globale Themen wie Kriege und Klimawandel. Wo aber Gefühle der Hilflosigkeit und Angst überwiegen, lauern Hassprediger und Antisemiten auf Anhängerschaft.“

Blume weist seit längerem auf die steigende Zahl antisemitischer und rassistischer Hassverbrechen hin und warnt vor einer Radikalisierung der Hetze im Internet. Der Religions- und Politikwissenschaftler, Buchautor und Universitätsdozent veröffentlichte einen Tag nach dem Anschlag in seinem Wissenschaftsblog eine Einschätzung des Attentats. In seinem Weblog bei der Zeitschrift Spektrum der Wissenschaft schreibt er über die im Internet veröffentlichte Hetzschrift, die unter dem Namen des Festgenommenen verfasst wurde: „In einer ersten, notwendig vorläufigen Analyse muss ich jedoch feststellen, dass auch der Text dieses ‚offenen Briefes‘ leider haargenau zu den Beobachtungen und Befürchtungen zur digitalen Radikalisierung von Verschwörungsmythen passt.“

Der antisemitische Glaube an eine jüdisch mitbestimmte Weltverschwörung und eine angebliche „Umvolkung“ der Weißen gefährde die Demokratie und das friedliche Zusammenleben an sich, warnt Blume. Diese Hetze könne sich im Grunde „gegen jede Minderheit“ wenden.

Täter wollte Juden in die Hölle schicken

Der Verfasser des Textes stelle sich selbst als „John Earnest“ und „Mann von europäischen Vorfahren“ vor, so Blume. Der Verfasser des „offenen Briefes“, der mutmaßliche Attentäter, verknüpfe rassistische und religiöse Mythen und spreche von einer „europäischen Rasse“, der er angehöre: „Ich würde tausendfach sterben, um das Schicksal des Untergangs zu verhindern, den die Juden für meine Rasse geplant haben.”

Blume erklärt, dass der Text hier auf einen antisemitisch-rassistischen Umvolkungs-Verschwörungsmythos zurückgreife, der unter dem Begriff „Hooton-Plan“ seit Jahren im Netz stehe. Juden seien demnach unter anderem schuld an Lügen und Täuschungen der „Nachrichtenmedien“, an der „Versklavung der Nationen“ durch Banken und Finanzindustrie, an Kriegen in der Welt, an einem „kulturellen Marxismus und Kommunismus” sowie an der „Verbreitung degenerierter Propaganda als Entertainment“. Auch für die Verbreitung von „Feminismus, der Frauen in Sünde versklavt“, sowie von Pornographie seien die Juden schuld, heiße es in der Hetzschrift weiter. Außerdem würden Juden für eine weltweite Massenmigration sorgen, um die „europäische Rasse zu ersetzen”. Zudem verfolgten Juden Christen. Denn schließlich seien die Juden auch für die Ermordung von Jesus Christus verantwortlich. Zusammenfassend schreibe der Verfasser: „Für diese Verbrechen verdienen sie nichts anderes als die Hölle. – Ich werde sie dahin senden.”

„Dem Antisemitismus im Internet klar und international entgegentreten!“

Blume findet darin altbekannte Muster antisemitischer Verschwörungsmythen, die auf „alter, christlicher Judenfeindlichkeit“ basierten, ergänzt durch jüngere, nationalistisch-rassistische Mythen. Von Christen, Europäern und US-Amerikanern begangene Taten wie Genozide, Sklaverei und Schuldverdrängung schiebe der Verfasser nachträglich und ausschließlich Juden zu. Blume: „Bemerkenswert – und leider ebenfalls klassisch – ist die starke Zuschreibung von sexuellen und frauenbezogenen Vorwürfen – der Verfasser gibt Jüdinnen und Juden die Schuld für seine eigenen, sexuellen Ängste.“

Der Verfasser des „offenen Briefes“ behauptet, von Felix Arvid Ulf Kjellberg unterstützt worden zu sein, dem Betreiber des YouTube-Kanals PewDiePie, der in der Vergangenheit antisemitische Inhalte verbreitet hatte. Als „Brüder im Blut“ bezeichnet er zudem Robert Bowers und Brenton Tarrant. Der eine ein rechtsextremer Terrorist, der im Oktober 2018 elf Menschen in der Tree-of-Life-Synagoge Pittsburgh ermordete, der andere erschoss im März 2019 50 Besucherinnen und Besucher zweier Moscheen in Christchurch, Neuseeland.

Im Internet finde Hass „Echokammern und vermeintlich soziale Bestätigung, was eine schnelle, digitale Radikalisierung befördern kann“, betonte Blume. Er warnte davor, Antisemitismus immer nur bei „den Anderen“ wahrzunehmen und die Gefahren der digitalen Radikalisierung zu leugnen. „Die neuen Medien haben den Antisemitismus und Rassismus nicht hervorgebracht – aber sie befeuern diese. Und Hass und Terror machen vor keiner Gruppe Halt und bedrohen am Ende uns alle. Es wird höchste Zeit, dem Antisemitismus gerade auch im Internet endlich klar und international entgegenzutreten!“

„Mir hilft mein Glaube, vor allem das Gebet“

Für Blume ist „klar, dass die Staaten und insbesondere die Digitalfirmen sehr viel stärker Regeln setzen und durchsetzen müssen. In ihrer derzeitigen Form bedrohen Facebook, YouTube und WhatsApp das friedliche Zusammenleben“, sagte er gegenüber pro. Demokraten, einschließlich von Institutionen wie Parlamenten, Kirchen, Behörden und Wissenschaftseinrichtungen, seien aufgefordert, schneller zu lernen, „Trolle abzuwehren und das Netz zurückzuerobern“. Blume drängt zudem auf neue Finanzierungsmodelle für Qualitätsmedien.

Seit gut 15 Jahren erlebe der Beauftragte gegen Antisemitismus selbst digitale Übergriffe – sogenannte Trollings – von rechtsextremer, islamistischer und religionskritischer Seite. Diese hätten sich immer weiter gesteigert. „Inzwischen vergeht kein Tag mehr, an dem ich nicht digital als Beteiligter einer angeblichen jüdisch-christlich-islamischen Weltverschwörung beschimpft und verleumdet werde“, sagte Blume, der als Christ mit einer Muslimin verheiratet ist. Er lösche und blockiere dies, stehe aber zudem im Kontakt mit den Sicherheitsbehörden.

Er selbst habe gelernt, den Hass nicht mehr persönlich zu nehmen. Der Forscher ergänzt: „Und schließlich hilft mir auch mein christlicher Glaube, vor allem das Gebet. Das letzte Gericht gibt es nicht auf YouTube oder Facebook, sondern bei Gott, der Liebe ist. Und es hat einem ja auch niemand versprochen, dass es immer leicht sein würde. Wenn ich Extremisten verschiedener Art verärgere, dann heißt das doch, dass meine Arbeit etwas bewirkt. Inzwischen kann ich Trolling als Auszeichnung annehmen.“

Von: Jörn Schumacher

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