„Generalverdacht trotz Missbrauchsskandal nicht angebracht“

Trotz des Missbrauchsskandals können Eltern ihre Kinder weiterhin kirchlichen Mitarbeitern anvertrauen. Das sagt die stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes, Martina Huxoll-von Ahn. Eltern sollten jedoch einen aufmerksamen und auch kritischen Blick gegenüber Einrichtungen haben, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten.
Von Norbert Schäfer
Eine Studie legt nahe, dass mehr als 200.000 Menschen in Deutschland von Kirchenmitarbeitern sexuell missbraucht worden sind

Können Eltern angesichts der jüngst veröffentlichten Zahlen über sexuellen Missbrauch in den Kirchen noch guten Gewissens ihre Kinder in die Obhut der Kirchen geben? „Ja“, sagt die stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes, Martina Huxoll-von Ahn: „Eltern sollten das nach wie vor tun. Sie sollten aber durchaus auch kritisch und aufmerksam sein.“ Sie rät Eltern prinzipiell dazu, nachzufragen, was aktiv zum Schutz der Kinder getan werde. Dies gelte für sämtliche Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche betreut oder gefördert werden.

Ein Generalverdacht gegenüber den Kirchen sei nicht angebracht, aber „immer und überall ein kritisches Hinterfragen“. Huxoll-von Ahn: „An den Angeboten der Kirche haben die Kinder Spaß, sie profitieren davon. Diese positiven Seiten dürfen nicht durch die Vorfälle aus dem Blick geraten. Eltern zu verängstigen ist daher der falsche Weg.“ Grundsätzlich würden alle Organisationen, die Berührungspunkte mit Kindern und Jugendlichen haben, das Risiko tragen, dass sich bei ihnen Menschen ehrenamtlich oder bezahlt engagieren, die Interessen an Kindern haben, die ihnen schaden. Wenn eine Organisation über ein Präventions- und Schutzkonzept zur Vermeidung von Gewalt gegen Kinder verfüge, sei das ein wichtiges Indiz dafür, dass man sich dort mit der Thematik intensiv beschäftigt habe und so schädigendes Verhalten gegenüber Kindern verhindern wolle.

Huxoll-von Ahn erkennt in dieser Richtung starke Bemühungen der Katholischen Kirche in den letzten Jahren. „Seit 2010 hat die Katholische Kirche vielfältige Maßnahmen in Form von Präventionsleitlinien, Schulungen gerade auch für alle ehrenamtlich Engagierten, einer Hotline und Ähnliches ergriffen. Da ist sehr viel in Gang gebracht worden“, sagt sie im Gespräch mit pro. Alle Bistümer verfügten mittlerweile über Präventionsbeauftragte. „Ich finde, dass gerade die Katholische Kirche – was hilfreiches Material angeht, das auch im Internet verfügbar ist – sich sehr viel Mühe gegeben hat“, sagt Huxoll-von Ahn. Dass Opferverbände insbesondere bei der Aufarbeitung jedoch weitgehend außen vor bleiben, bedauert sie. Deren Drängen auf umfassende und vor allem zügige Aufarbeitung sei „vollkommen nachvollziehbar“.

Rechtslage ist schwierig

Defizite sieht Huxoll-von Ahn vor allem im Umgang mit Verdächtigten oder Beschuldigten. Die Kirchen hätten in der Vergangenheit nur „sehr zögerlich oder gar nicht die staatlichen Instanzen eingeschaltet“. Die meisten Fälle seien in der Vergangenheit „mit Kirchenrecht“ behandelt worden. „Das genügt aber nicht“, sagt Huxoll-von Ahn. „Wir sprechen über Straftatbestände, die in die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaften gehören.“

Ein Rechtsanwalt ergänzt, dass die Opfer zunächst vom Täter – oder bei Kirchenbeamten direkt von der Kirche – Schadensersatz verlangen könnten, auch Schmerzensgeld. Bis 2013 sei jedoch die Rechtslage so gewesen, dass der Anspruch nach drei Jahren verjährte, wenn das Opfer den Täter kannte. „Man hat sich dann eine Weile damit beholfen, dass diese Dreijahresfrist aber wenigstens erst mit dem achtzehnten Geburtstag beginnen soll–e, wenn das Opfer volljährig und in der Lage ist, seine Ansprüche durchzusetzen“, sagt Rechtsanwalt Klaus Schultze-Rhonhof, der die Debatte um die Missbrauchsfälle verfolgt. 2013 sei dann eine 30-jährige Verjährungsfrist eingeführt worden, die auch überhaupt erst dann zu laufen beginne, wenn das Opfer 21 Jahre alt wird. „Eine gute Regelung. Diese Änderung gilt aber nur für Taten, die 2013 nicht schon verjährt waren – und das sind leider sehr viele“, sagt Schultze-Rhonhof. Auch im Strafrecht hätten sich die Fristen der Verjährung mehrfach geändert. „Gerade sexuelle Straftaten werden ganz oft nicht angezeigt, weil sich das Opfer schämt oder Angst hat, wegen falscher Verdächtigung selbst bestraft zu werden, wenn es die Tat nicht beweisen kann“, sagt der Rechtsanwalt. Erst wenn sich im Erwachsenenleben psychische Probleme auftäten, werde oft wieder nach Tat und Täter gefragt. „Dann waren die Taten zumindest in der Vergangenheit oft schon verjährt.“

Gefahr liegt in den Strukturen

Allein im Zölibat nach dem Grund für den Missbrauch zu suchen, hält Huxoll-von Ahn für schwierig. „Es ist so, dass es Menschen mit pädosexuellen Neigungen gibt. Die suchen die sich entweder hauptamtlich oder ehrenamtlich Möglichkeiten, in Kontakt mit Kindern und Jugendlichen zu kommen. Das kann in der Kirche sein, das kann im Fußballverein sein, das kann in einer Heimeinrichtung sein.“ Die Personen versuchten, sich die Zugänge zu den Kindern und Jugendlichen zu erschließen. Das Spezifische der Kirche sei, dass dort Glaubensfragen, ihre Auslegung oder vermeintlich religiöse Rituale zur Manipulation von Kindern und Jugendlichen benutzt würden.

Huxoll-von Ahn rät, die Strukturen von Organisationen stärker in den Blick zu nehmen und vor allem ausgeprägte Hierarchien. „Alle Organisationen, die streng hierarchisch organisiert sind und in denen sich an bestimmten Stellen Macht konzentriert, sind anfälliger für Missbrauch und Gewalt. Dazu muss man nicht Kirche sein, auch wenn Macht und Hierarchie ein zentrales Thema in der katholischen Kirche sind“, sagt sie. „Daher ist es zu kurz gegriffen, nur kräftig gegen die Katholische Kirche auszuteilen. Denn überall da, wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten, betreut oder gefördert werden, gibt es die Verpflichtung, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und die vorhandenen Strukturen, gerade was Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse angeht, gehören dazu zwingend auf den Prüfstand.“ Dabei hat sie auch die eigene Organisation im Blick. „Wir sind genauso wenig davor gefeit wie andere. Daher müssen auch unsere über 400 Orts- und Kreisverbände Präventions- und Schutzkonzepte entwickeln.“

Der Hintergrund

Eines der Hauptthemen beim jährlichen Frühjahrstreffen der Katholischen Bischöfe in Lingen diese Woche war die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der Katholischen Kirche. Das Entsetzen über das Ausmaß der Vergehen, offengelegt in der MHG-Studie, ist groß. Demnach sollen mehr als 3.600 Minderjährige von 1.670 katholischen Klerikern im Zeitraum von 70 Jahren missbraucht worden sein.

Kardinal Reinhard Marx sieht seine Kirche auf einem guten Weg. „Wir sind entschlossen, alles zu tun, um sexuellen Missbrauch in der Kirche zu überwinden und auch den Betroffenen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“, sagte er am Donnerstag. „Wir werden gutmachen, was möglich ist auf Erden.“ Opferverbände äußerten sich kritischer. Sie vermissten vor allem klare Aussagen zu Entschädigungsleistungen für die Opfern.

Anfang der Woche hat die Zeitung Die Welt mit dem Artikel „Das wahre Ausmaß sexuellen Kindesmissbrauchs“ neuen Zündstoff in der Debatte über sexuellen Missbrauch in den Kirchen geliefert. Der Artikel weist auf eine Untersuchung der Universität Ulm hin, die demnächst in der Fachzeitschrift Journal of Child Sexual Abuse veröffentlicht werden soll und offenlegt, dass „von etwa 114.000 Betroffenen sexuellen Missbrauchs durch katholische Priester und noch einmal so vielen durch Pfarrer und Mitarbeiter in evangelischen Kirchen auszugehen“ sei. Mit anderen Worten: Die Zahl der Missbrauchsfälle in der Evangelischen Kirche dürfte der Studie zufolge ebenso groß sein wie bei der Katholischen Kirche.

Von: Norbert Schäfer

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