Der Theologe Michael Herbst von der Universität Greifswald überraschte seine Zuhörer zunächst bei seinem Referat auf dem Willow-Creek-Leitungskongress: „Macht ist cool“ und „Opposition ist Mist“, erklärte Herbst den Zuhörern. Überraschend deshalb, weil die amerikanische Willow-Creek-Gemeinde selbst Probleme mit Machtmissbrauch hatte. Herbst führte aus: „Ohnmacht ist keine christliche Tugend.“ Macht bedeute die Möglichkeit, Dinge zu gestalten und voranzubringen. Herbst betonte mit Bezug auf den Paulusbrief an die Epheser (Kapitel 4,14–16), Gottes Bildungsziel für Christen sei die „Ermächtigung zu einem reifen und erwachsenen Glauben“. Mündige Christen zeichneten sich durch einen ausgewogenen Umgang mit der ihnen anvertrauten Macht aus. Zudem ziele diese Macht nie auf Alleinherrschaft ab, sondern „echte Macht ermächtigt andere“.
Zu viel Macht jedoch führe schnell zu Machtmissbrauch – immer dann, wenn Leiter blinden Gehorsam forderten, anstatt andere zu ermächtigen, mündige Christen zu werden. Vor Machtmissbrauch sei kein Leiter – er selbst nicht ausgenommen – gefreit. Das Problem sei nicht die „dunkle Seite der Macht“, sondern die dunkle Seite der Seele. Macht in den Händen von Menschen führe in Versuchung und verlange daher Begrenzung und Kontrolle. Denn „einsam an der Spitze machen wir Fehler“. Herbst plädierte für „Gewaltenteilung“ in den Gemeinden. Gemeinden müssten „sichere Orte“ sein, wo Machtmissbrauch nicht geduldet werde.
Zudem forderte Herbst die Leiter dazu auf, sich Jesus zum Vorbild zu nehmen, also den, der „die höchste Macht schlechthin besitzt“. Er habe anderen Menschen gedient und dazu befähigt, starke Persönlichkeiten zu werden. Gleichzeitig sei Jesus derjenige, der die Macht habe, Sünde zu vergeben – auch die eines Leiters, der seine Macht ausnutzte. Als Herbst seinen Vortrag mit der „Star Wars“-Analogie „Möge diese Macht mit euch sein“ beendete, folgte der auf dem Kongress bisher längste Applaus und vereinzelte stehenden Ovationen.
Überheblichkeit aufgeben
Über den Zeitgeist hatte der Leiter des Missionswerks Campus für Christus Schweiz, Andreas Boppart, am Donnerstagabend referiert. Weil sich die Gesellschaft Soziologen zufolge so stark verändert habe wie noch nie, müssten sich nun auch die Gemeinden verändern. Kirchen und Gemeinden stünden vor der Herausforderung, dass sie „gemeinsam mit der kommenden Generation herausfinden, wie die Gemeinden der Zukunft aussehen“.
Als grundlegende Veränderung der Gesellschaft arbeitete Boppart eine Verschiebung von einer Schuld- zu einer Schamkultur heraus. Eine Schamkultur orientiere sich nicht an absoluten Werten, sondern an dem Verhalten der Masse. Richtig und falsch spielten nur noch eine untergeordnete Rolle. Authentizität werde zur neuen Wahrheit. Schamgeprägte Menschen sagten nicht mehr „Ich mache Fehler“, sondern stattdessen „Ich bin ein Fehler“.
Für die Kirche der Zukunft gebe es kein Patentrezept für die Zukunft, keine „Quickfix-Lösung“. Fest stehe nur: „Was uns hierher gebracht hat wird uns nicht automatisch in die Zukunft tragen.“ Um angemessen auf die Veränderungen in der Gesellschaft zu reagieren und Gemeinden zu schaffen, in denen sich auch seine Kinder wohlfühlen würden, hätten die Gemeinden noch einen „langen Weg“ vor sich. Als ersten Schritt forderte Boppart die Gemeinden dazu auf, ihre überhebliche Haltung gegenüber Andersdenkenden und Veränderung aufzugeben. Anhand des Ersten Korintherbriefes, Kapitel 8,1, argumentierte er: „Bloßes Wissen macht überheblich. Was uns wirklich voranbringt, ist die Liebe.“ Das Trainieren der „Liebesfähigkeit“ dürfe nicht auf Kosten der Wahrheit geschehen. Trotzdem zeigte sich Boppart davon überzeugt, dass die größte Gefahr für die Gemeinden nicht das Falsche, sondern das Einseitige sei.
Von: Sara Kreuter