Constance und ihr Mann Tibor sind überglücklich: Endlich hat es geklappt mit dem Wunschkind. Der Termin bei der Pränataldiagnostik sei reine Routine, so hatte die Ärztin vorher zu ihnen gesagt. Das junge Ehepaar geht gemeinsam zu dem Termin. Schon einen Tag vorher spürt Constanze starke innere Unruhe. Obwohl alle Werte bisher gut waren, fürchtet sie, dass der Arzt etwas finden könnte.
Die Ahnung wird traurige Gewissheit. "Mit Ihrem Kind ist etwas nicht in Ordnung", sagt der Arzt bei der Untersuchung. Im dritten Schwangerschaftsmonat erfahren die Eltern, dass ihr Baby an einer schweren Fehlbildung des Gehirns leidet. Niemand kann vorhersagen, ob es die Geburt überleben wird, ob es jemals selbständig atmen oder schlucken können wird. Der Mediziner rät zum Abbruch der Schwangerschaft. Er gibt aber zu, keine Erfahrungen zu haben mit Kindern, die mit einer solchen Behinderung auf die Welt kommen. "In den seltenen Fällen, die wir hier hatten, haben sich die Paare für eine Abtreibung entschieden. Wir kennen keinen Fall mit so einer Diagnose, bei dem das Baby zur Welt kam", sagt er zu den Bohgs.
Ein böser Traum
Sie reagieren fassungslos. "Das kann nicht wahr sein." Immer wieder sagen sie die Sätze. Nach stundenlangem Weinen wollen sich die beiden nur noch verkriechen. Die Tage danach vergehen zwischen Weinen, Grübeln und erschöpftem Schlaf. Jedes Mal, wenn sie aufwacht, hofft Constanze, sie erwache aus einem bösen Traum. "Ich spürte nichts als Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit", beschreibt sie diese Wochen. "Meine gesamte Lebensenergie war aus mir gewichen. Unendliche Finsternis umgab uns." Es ist die schwerste und schmerzhafteste Entscheidung ihres Lebens. Vier Wochen lang treibt eine Frage die beiden um: Sollen sie die Schwangerschaft abbrechen lassen oder kann Constanze eine Schwangerschaft durchstehen – im Wissen, dass ihr Kind dem Tod geweiht ist? Würden sie gegebenenfalls ein Leben mit einem schwerstbehinderten Kind bewältigen? Constanze Bohg stammt aus einem christlichen Elternhaus, ihr Mann Tibor hat sich als Erwachsener taufen lassen. Nun denken sie über eine mögliche Abtreibung nach, ein Thema, das bisher tabu für sie war.
In ihrem Schmerz erbitten Constanze und Tibor von Freunden und Familien eine Kontaktsperre. Sie wollen niemanden sehen, nicht reden, keine gutgemeinten Ratschläge hören und fahren ans Meer. "Uns hätte niemand helfen können", schreibt sie. "Mein Gottesbild war wie eine Statue auf den Boden gefallen und dort in tausend Teile zerbrochen", schreibt die Autorin. In der Bibel liest sie nur eine Stelle: das Buch Hiob. Sie hadert mit Gott. Die Frage nach dem "Warum" treibt sie um. Aber die Antwort bleibt aus. Wieder zuhause sucht sie im Internet nach Informationen. Sie findet zwei Frauen in Neuseeland und der Schweiz, die ein Kind mit der gleichen Diagnose ausgetragen haben. Per E-Mail erzählen die Frauen erzählen aus eigener Erfahrung, wie es praktisch gelingen könnte, ihr Baby trotz der geringen Überlebenschancen auszutragen.
Nichts als bedingungslose Liebe
Constance und Tibor fühlen sich überfordert und suchen Hilfe bei einer Psychologin. Es dauert viereinhalb Wochen, bis sie sich durchringen können, die tödliche Diagnose zu akzeptieren und sich dazu entscheiden, das Baby auszutragen. Sie wollen alles tun, damit es dem Baby gut geht, ihm aber Schmerzen durch überflüssige medizinische Maßnahmen ersparen. In einem katholischen Krankenhaus treffen sie auf Ärzte, die bereit sind, ihren kleinen Sohn nach der Geburt palliativ zu behandeln. "Wir wollten alles wieder in Gottes Hand legen" schreibt Constance Bohg. "Uns war klar, dass wir nichts tun konnten als bedingungslos zu lieben. "Wir wissen nicht, ob Julius Stunden oder Tage bei uns sein wird", schreibt sie in den Geburtsplan, den sie für Ärzte und Hebammen erstellt. Sie wünschen sich, dass ihr Sohn nicht auf der Intensivstation behandelt wird, sondern ruhig in ihren Armen sterben darf. Drei Monate zu früh kommt Julius lebend auf die Welt. Er wiegt 800 Gramm und ist ein schönes Kind. Nach zwei Stunden schlief er friedlich ein.
Constanze Bohg beschreibt offen und sehr ehrlich ihre Gefühle und Gedanken, ihre Verzweiflung und ihre Wut während der Schwangerschaft und Geburt, aber auch nach dem Tod ihres Babys. Sie lässt auch die schweren Momente bei der Beerdigung nicht aus. Nach dem Tod des kleinen Julius hat sie sich Zeit zum Trauern gelassen und ein Buch geschrieben – eine schmerzhafte, aber heilsame Therapie, wie sie sagt. "Viereinhalb Wochen" ist ein Buch, das den Leser packt und das man am liebsten in einem Zug fertig lesen möchte. Die meisten Leser werden dabei mehr als eine Packung Taschentücher brauchen. Aber die Geschichte des Kleinen Julius ist auch ein Mutmacher: Es macht Menschen in schweren Situationen Mut, den eigenen Weg zu finden, abseits aller gesellschaftlichen Erwartungen und Normen. Und es kann sicher eine Hilfe sein für Eltern, die Ähnliches erleben, aber auch für deren Freunde und Verwandte. Constance und Tibors Geschichte ist außerdem ein ehrliches Zeugnis davon, dass der christliche Glaube auch in großen Krisen trägt. (pro)
Constanze Bohg, Viereinhalb Wochen. Die Geschichte von unserem kleinen Julius,
Pattloch, 248 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-629-13023-5
Erscheinungstermin: Montag, 3. September 2012.