Gauck: „Zivilcourage, davon brauchen wir mehr“

Mahnend und gleichzeitig ermutigend war der Auftritt von Altbundespräsident Gauck am Mittwoch im Marburg. Er warb dafür, das Leben in Freiheit und in einer Demokratie niemals als selbstverständlich zu betrachten.
Von Swanhild Brenneke
Joachim Gauck, Marburg, Altbundespräsident

„Die meisten von Ihnen haben keine Ahnung, mit wem man es bei Putin zu tun hat“, sagte Joachim Gauck am Mittwochabend in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien in Marburg. Im Rahmen einer Lesung aus seinem neuen Buch „Erschütterungen“ sprach der Altbundespräsident auch über aktuelle politische Entwicklungen, die die Demokratie bedrohen. Nicht nur einmal fand er dabei mahnende Worte, die sich auch an Politiker richteten.

„Unsere friedenswilligen, anständigen Politiker haben nicht genau genug hingeschaut“, sagte er zum Beispiel im Hinblick auf Russlands Annexion der Krim 2014. Schon damals hätte es eine Zeitenwende gebraucht und man hätte erkennen können: „Wenn jemand Panzer und Truppen in Gang setzt und ein anderes Volk überfällt, dann ist das keine normale Politik mehr“, sagte Gauck. Die Hinterhältigkeit, mit der Russlands Regierungschef Wladimir Putin schon damals agierte, habe man nicht erkennen wollen.

Joachim Gauck, Marburg, Altbundespräsident Foto: Landkreis Marburg-Biedenkopf/Georg Kronenberg
Altbundespräsident Joachim Gauck las aus seinem neuen Buch „Erschütterungen“ in der Lutherischen Pfarrkirche St. Marien

Gauck, selbst in der Nachkriegszeit und der DDR aufgewachsen, gab den Zuhörern „ein paar Minuten Sowjetkunde“, wie er es nannte. Der Altbundespräsident gab nicht nur einen Überblick über Putins Prägung und Vergangenheit als Offizier des sowjetischen Geheimdienstes, sondern erklärte auch in aller Kürze einige zentrale Elemente, die das Leben in der Sowjetunion damals ausmachten: „Wenn du einmal die Macht hast, gib‘ sie nicht wieder her. Man verbietet freie Meinungsäußerung. Man verbietet, dass die Menschen sich in Vereinen, Initiativen oder Gewerkschaften zusammenschließen. Es gibt keine freie Medienwelt, keinen freien Meinungsaustausch. Und es soll alles so bleiben, wie es ist.“

Russlands Selbstverständnis

Zwar gebe es heute den Leitgedanken des Kommunismus nicht mehr, aber die Elemente seien in der Praxis in Russland weiterhin vorhanden. An die Stelle des Kommunismus sei das Feindbild „Westen“ getreten. In der russischen Propaganda werde „der Westen“ als verkommen und nicht erstrebenswert dargestellt. „Man nennt den Westen dort auch ‚Gayropa‘, weil bei und alle Menschen, auch gleichgeschlechtliche, die gleichen Rechte haben“, sagte Gauck. Und besonders möge man nicht, dass ein Volk die Regierung abwählen könne.

„Putin dockt an altes Denken aus der zaristischen Zeit an“, sagte Gauck. Russland verstehe sich immer noch als Imperium. Deshalb erkläre Putin zum Beispiel auch, die Grenzen Russlands seien nicht klar definiert. Und daher komme auch das Denken, die Ukraine gehört zu uns. „Es war immer das Selbstverständnis: Wir und die anderen“, betonte Gauck.

„Nichts, was wir uns einmal errungen haben, ist ewig garantiert.“

Die Politiker im Westen müssten begreifen, dass sie mit positiven Absichten große, strategische Fehler machen können. Die Schwäche der deutschen Politik sei es, mit guter Absicht die Wirklichkeit zu verfehlen und dann keine Konsequenzen daraus zu ziehen. „Mit den besten und christlichsten Absichten tun wir manchmal so, als könnten wir mit unserer Mentalität das Gegenüber verändern“, sagte Gauck. Aber Machtmenschen verstünden Friedenspolitik als Hilflosigkeit.

Joachim Gauck, Marburg Foto: Landkreis Marburg-Biedenkopf/Georg Kronenberg
Joachim Gauck (rechts) im Gespräch mit Landrat Jens Womelsdorf (links) und Ralf Laumer (Mitte, Leiter der Stabsstelle Dezernatsbüro des Landrats)

Es brauche eine „Wiederentdeckung einer Entschlossenheit, zu der wir schon einmal fähig waren“. Er selbst stehe eher auf der Seite der Sozialdemokraten, die wüssten: „Wir müssen uns stärker verteidigen und die Ukraine mehr unterstützen.“ Er fügte hinzu: „Nichts, was wir uns einmal errungen haben, ist ewig garantiert.“

Mut statt Furcht

Auch im Umgang mit dem Rechtspopulismus empfahl Gauck Entschlossenheit – und zwar von jedem Einzelnen. Er mache sich derzeit keine Sorgen, dass in den nächsten 30 Jahren Menschen von ganz rechts außen an die Macht kämen. Dafür gebe es zu viele Menschen, die die Demokratie verteidigten. Aber man müsse den Rechtspopulismus „mit Augenmaß bekämpfen“ und den Rechten „nicht unsere Angst schenken“. Gauck sagte: „Denn wenn Menschen sich fürchten, laufen viele weg. Furcht ist kein guter Ratgeber.“ 

Daher gelte es für jeden einzelnen Bürger, sich im Alltag für Demokratie einzusetzen. „Die Gruppen, die ein demokratisches Miteinander wollen, müssen stärker sein.“ Man werde Ideologien – egal welche – niemals ganz ausrotten können. Deshalb müsse jeder Einzelne mutig genug sein, um den Mund aufzumachen. „Zivilcourage, davon brauchen wir mehr.“ 

„Ich wusste, ich würde Wahlen immer als ein Element der Freiheit verstehen.“

Es habe ihn sehr bewegt, als sich vor Kurzem so viele Menschen aus unterschiedlichen Milieus zu den Demonstrationen gegen Rechts zusammengefunden hatten. Denn manchmal sei „uns in Deutschland“ das Wir-Gefühl abhanden gekommen.

Was Parteien der Mitte fehlt

Gauck warten auch davor, alle Rechts-Wähler über einen Kamm zu scheren. Natürlich seien einige dabei, die überzeugt rechte Ideologien verträten. Viele Menschen, gerade im Osten, fühlten sich aber auch von den „Parteien der Mitte“ im Stich gelassen. Das habe viel mit der Prägung zu tun, denn im Osten gebe es noch viele Menschen, die über mehrere Generationen hinweg in einer Diktatur gelebt hätten. „Es gibt viele traditionell geprägte Menschen, die an der Moderne leiden“, sagte Gauck.

Das sei zwar kein Grund, dem Fortschritt eine Absage zu erteilen. Doch jedes Land brauche neben einem progressiven Teil der Politik auch denjenigen, der sich für die Sicherung des Bewährten einsetze. Die CDU sei eigentlich dafür zuständig, einer konservativen Wählerschaft wertkonservative Angebote zu machen.

Dass dieser Ansatz mittlerweile viel zu wenig verfolgt werde, spiele rechten Parteien in die Hände. „Wir müssen die Wähler ernst nehmen und ihnen dann auch erklären, warum man der Demokratie trauen sollte“, sagte Gauck. „Ich musste 50 Jahre alt werden, um in freien, gleichen und geheimen Wahlen wählen zu können“, erinnerte sich der Altbundespräsident, der bis zu ihrem Ende in der DDR lebte. „Ich wusste damals: Ich würde keine Wahl versäumen. Und es immer als ein Element der Freiheit verstehen.“

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