"Wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen: unser Land?", fragte Gauck zu Beginn seiner Rede. Viele Bürger seien geprägt von einer Vielzahl von Ängsten und Sorgen. Gauck nannte die fortschreitende Vereinzelung, die auseinander klaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Globalisierung und den verbrecherischem Fanatismus beispielhaft als Gründe für die Besorgnisse der Bürger. Er wolle aber nicht nur über die Sorgen reden, sondern zugleich zu mehr Mut und Selbstvertrauen aufrufen. Es gelte, die Herausforderungen der Zeit nach besten Kräften zu bewältigen.
Deutschland empfinde er als ein Demokratiewunder. Das entschlossene Ja der Westdeutschen zu Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sei, trotz der Verdrängung der eigenen Schuld, ein wichtiges Erinnerungsgut, das ihn mit Dankbarkeit und Freude erfülle. Trotz aller Irrwege hätten die 68er die historische Schuld ins kollektive Bewusstsein gerückt. Gauck würdigte, was in diesem Zusammenhang gelungen ist. Ein weiterer Schatz im deutschen Erinnerungsgut sei die friedliche Revolution in der DDR 1989, zu der die Ostdeutschen im Stande gewesen seien.
Mehr Europa wagen
Mit "unserem Land" müssten die Menschen Teilhabe und Aufstiegschancen verbinden, sagte Gauck. Dazu gehöre ein vorsorgender und ermächtigender Sozialstaat und ein Land, in dem Kinder ihre Talente entfalten dürften. Es dürfe nicht sein, dass sich arme, alte oder behinderte Menschen ausgegrenzt fühlten. Freiheit sei eine notwendige Bedingung von Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wiederum sei wichtig für die Bewahrung der Freiheit und das Vertrauen in die Demokratie. Das Ziel müsse es sein, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.
In Deutschland sollten alle, die hier leben, sich auch zuhause fühlen können, forderte Gauck. Das Streben der unterschiedlichen Menschen nach dem Gemeinsamen habe oberste Priorität – in Freiheit, Frieden und Solidarität. Hier dürfe sich die Gesellschaft nicht von Ängsten und Ressentiments leiten lassen. Es gelte das "Ja zu Europa" zu bewahren. Gerade in Zeiten der Krise sei es notwendig, "mehr Europa zu wagen". Ein Europa, das aus Gaucks Sicht für viele junge Menschen schon zur Lebenswirklichkeit gehöre und ein wunderbarer Gewinn für die Menschen sei.
Aktive Bürgergesellschaft als Stütze der Demokratie
"Unsere Verfassung spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben und welche Sprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht als Sanktion für verweigerte Integration. Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir", betonte Gauck. Der Theologe bezeichnete die repräsentative Demokratie als einzige mögliche Form, diese Ideale umzusetzen.
Stütze für eine gelingende Demokratie sei auch eine aktive Bürgergesellschaft, in der genügend Demokraten, den Terroristen und Fanatikern wehren würden. Von einer aktiven Bürgergesellschaft erwarte er ein eindeutiges Bekenntnis zur Demokratie. "Und speziell zu den rechtsextremen Verächtern unserer Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich", fand Gauck auch hier klare Worte und erntete dafür lang anhaltenden Applaus. "Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben." Denjenigen wiederum, die unter dem Deckmantel der Religion Fanatismus und Terror ins Land tragen und die hinter die europäische Aufklärung zurückfallen, werde die Gesellschaft Einhalt gebieten.
Sorgen bereitete Gauck das geringe politische Interesse und die Tatsache, dass Menschen für ihr freiwilliges Engagement belächelt würden. Er wisse nicht, wo die Gesellschaft ohne die vielen ehrenamtlichen Aktivitäten stünde. Um die Distanz zwischen Regierenden und Regierten zu mindern, empfahl er den Regierenden, offen und klar zu reden, um verlorenes Vertrauen wieder zu gewinnen. Von den Regierten wünschte er sich, dass diese nicht nur Konsumenten sind, sondern auch die Gesellschaft mit ihrem Engagement bereichern. Verantwortung zu leben sei eine der schönsten Dinge des menschlichen Daseins.
Bitte um Vertrauen
Abschließend appellierte der Bundespräsident an die Zuhörer und Bürger, seiner Person und denen, die im Land politische Verantwortung tragen, Vertrauen zu schenken. Deutschland brauche Menschen, die in der Verantwortung stehen und solche, die Vertrauen in das wiedererwachsene Land haben. Nur Menschen mit Vertrauen könnten Fortschritte machen und Erfolge feiern. Im Hinblick auf die nachfolgenden Generationen sagte er: "Dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, das haben wir gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: dieses Erbe dürfen sie erwarten."
Vor der Vereidigung Gaucks bezeichnete der amtierende Bundesratspräsident Horst Seehofer (CSU) die Wahl des neuen Bundespräsidenten als wichtigen Meilenstein in der deutschen Geschichte. Der ostdeutsche Theologe stehe wie kaum ein Zweiter für den Satz der friedlichen Revolution von 1989 "Wir sind ein Volk", so Seehofer. Er dankte Gaucks Amtsvorgänger Christian Wulff, der zusammen mit seiner Frau Bettina an der Sitzung teilnahm, vor allem für die wichtigen Impulse im Bereich der Integration.
Unaufhaltsamer Fortschritt
Bundestagspräsident Norbert Lammert wertete die Wahl Gaucks als Zeichen des unaufhaltsamen Fortschritts beim Zusammenwachsen zwischen Ost und West. Gauck werde getragen von einer Woge der Sympathie. Die Erwartungen an ihn seien hoch. Der CDU-Politiker dankte ebenfall dem zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff. Wulff habe wichtige Impulse gesetzt und sich auch in seiner Zeit in Niedersachsen verdient gemacht. Dem neuen Bundespräsidenten wünschte Lammert für die vor ihm liegende Amtszeit Autorität für das Land, eine glückliche Hand und Gottes Segen.
Der frühere Chef der Stasi-Unterlagenbehörde Joachim Gauck war von einer breiten Koalition aus Union, SPD, Grünen und FDP nominiert und am 18. März von der Bundesversammlung gewählt worden. Am Nachmittag will die Bundeswehr dem neuen Staatsoberhaupt vor dem Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, mit militärischen Ehren begrüßen. (pro/ dpa)