Wer Seyran Ateş in diesen Tagen treffen will, hat es nicht leicht. Weil sie es nicht leicht hat. Die Berliner Imamin tut kaum einen Schritt ohne Polizeischutz. PRO ist mit ihr an einem Vormittag in der von ihr gegründeten Ibn-Rushd-Goethe-Moschee verabredet. Doch die Frauenrechtlerin erscheint nicht. Kurze Zeit später dann ein Anruf: Das Landeskriminalamt sei fälschlicherweise nicht informiert worden und ohne Polizei an ihrer Seite wolle sie die Moschee derzeit nicht betreten. Stattdessen findet das Interview in einem Café irgendwo in Berlin statt.
Ateş erscheint, ganz in Schwarz gekleidet, mit tief ins Gesicht gezogenem Hut auf dem Kopf. Während des Gesprächs schaut sie sich immer wieder um, wendet das Gesicht von der Straße ab, wenn sie auffällige Personen zu sehen glaubt. Fünf Jahre nach Gründung der ersten Berliner Moschee ohne Geschlechtertrennung und mit weiblichen Imamen sowie Homo-Eheschließungen ist bei weitem noch keine Normalität eingekehrt. Ateş erhält nach eigenen Angaben täglich Morddrohungen. Das Freitagsgebet findet unter Polizeischutz statt. Ein Privatleben mit Kinobesuchen oder spontanen Treffen bei Freunden hat Ateş schon lange nicht mehr.
Eröffnung unter Polizeischutz
Am 16. Juni 2017 öffnete die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee im Stadtteil Moabit ihre Tore – schon damals unter massivem Polizeiaufgebot – und ausgerechnet in einer Kirche. Die Evangelische Kirchengemeinde Tiergarten bot Ateş einen Raum zur Untermiete, der gleich beim ersten Freitagsgebet so voll war, dass viele vor der Tür warten mussten. Heute predigen die liberalen Muslime an anderer Stelle, aber noch immer in einer Kirche. Weil der Raum für die Moschee zu klein wurde, zogen sie etwa einen Kilometer weiter in ein anderes Kirchengebäude der Gemeinde in Tiergarten.
Der helle Raum im roten Backsteinhaus ist im Sommer angenehm kühl. Auf einem weißen flauschigen Teppich wird hier gebetet, in einem abgegrenzten Bereich stehen Stühle und Tische. Nach den Gottesdiensten finden sich hier Interessierte zusammen, die sich noch über die Predigt austauschen möchten. Nicht nur das ist eine Besonderheit in Ateş‘ Islampraxis. Vor der Tür hängt eine etwa ein mal zwei Meter große Regenbogenflagge als Zeichen der Solidarität mit der LGBTQ-Bewegung. Anlässlich des Christopher Street Days beteiligt sich die Moschee als islamischer Partner an einem Gottesdienst in Berlins Mitte.
„Wir vermitteln einen liberalen, zeitgemäßen und historisch-kritische gelesenen Islam“, sagt Ateş, die schwarze Kopfbedeckung tief ins Gesicht gezogen. „Und wir sind ein Schutzraum, in dem Muslime kritisch denken dürfen und auch ein Ort, zu dem Ex-Muslime kommen, um ihre kritischen Fragen zu besprechen.“ Jeder ist willkommen, sagt Ateş. Doch: „Wir bekommen so heftige Morddrohungen, dass sich manche Menschen nicht trauen, zu kommen.“
Seit 2017 mussten die liberalen Muslime mehrfach Hausverweise aussprechen. Einmal gegen eine Person, die einen konservativen Islam vertrat, andere Besucher anpöbelte und bedrohte. Einmal trug sie sogar offen die Zeichen der Terrororganisation Islamischer Staat. Ein anderes Mal erhielten zwei Männer Hausverbot, die Frauen antifeministisch schikanierten. Und gelegentlich werden hier sogar Teenager ausfällig. Denn die Moschee begrüßt regelmäßig Schulklassen in ihren Räumen. „Da haben Sie manchmal Jungs und Mädchen dabei, die sehr vehement erklären, warum der Islam nicht liberal sein kann. Einfach weil sie es zuhause so lernen.“
Dabei ist es für Ateş ein Fehlschluss, zu glauben, liberale Muslime seien weltweit in der Minderheit. „Sie werden durch Gewalt unterdrückt. Deshalb werden sie wenig gehört und kaum wahrgenommen.“ Und Ateş will ihnen helfen, ihre Stimme zu finden. Dafür lebt die Anwältin und Aktivistin seit 16 Jahren unter Personenschutz. „Ich habe als junge Frau gut gelebt. Ich lebe heute damit, dass ein herkömmlich freies Leben für mich vorbei ist. Und je weiter ich mich aus dem Fenster lehne, desto gefährlicher wird es für mich. Dennoch fühle ich mich freier als viele andere Menschen, weil ich mich mit meinen Gedanken und Überzeugungen nicht verstecke.“
Kritik auch aus den eigenen Reihen
Auch wenn das den meisten Menschen mindestens Respekt abverlangt, findet längst nicht jeder gut, was Ateş tut. Die konservativen Islamverbände ignorieren sie „freundlich, aber bestimmt“, wie Ateş sagt. Und auch in den Reihen des liberalen Islams und der Politik gibt es Kritiker: Die religionspolitische Sprecherin der Grünen im Deutschen Bundestag, Lamya Kaddor, hat Ateş immer wieder Islamfeindlichkeit vorgeworfen. Dabei setzt sich auch Kaddor für einen offeneren Islam ein, hat zu diesem Zweck etwa den Liberal-Islamischen Bund gegründet.
Anderen geht Ateş‘ Säkularismus zu weit. Die Imamin setzt sich für eine stärkere Trennung von Religion und Staat in Deutschland ein, wünscht sich etwa weniger Einfluss religiöser Stimmen in Rundfunkräten und fordert ein Verbot des Kinderkopftuchs. Wieder andere kritisieren einen Mangel an theologischer Fundierung in ihrer Moschee.
Obwohl Ateş nicht müde wird zu betonen, dass sie sich mehr Solidarität wünscht, besonders aus der Politik, ist sie sich nach fünf Jahren liberaler islamischer Theologie in Berlin sicher: „Das war es wert.“ Junge Homosexuelle schrieben ihr Nachrichten, in denen sie ihr dankten, dass sie bei ihr einen Platz gefunden hätten. „Das treibt mir die Tränen in die Augen. Wir haben Leben gerettet.“
3 Antworten
Von wem genau kommen denn die Morddrohungen?
Maik, Morddrohungen sind in aller Regel anonym. Aus welcher Gruppe der „Strenggläubigen“ diese kommen, das dürfte wohl auf der Hand liegen. Was sagt der Qur´an? „Wer seine Religion wechselt, den tötet“. Mit anderen Worten, wer sich nicht an Allah´s Gesetze hält, der hat bereits den Islam verlassen.
Es ist ruhig geworden um Frau Ates. Danke, dass die Redaktion diesen Artikel veröffentlicht hat.