„Fühle mich dem Lebensschutz verpflichtet“

Die Ampel hat sich in kurzer Zeit an vielen hochsensiblen Themen abgekämpft: Sterbehilfe, Abtreibung, Transsexuellengesetz. Ein Gespräch mit dem FDP-Staatssekretär im Justizministerium, Benjamin Strasser, über Lebensschutz und Kirche in der Politik.
Von Anna Lutz

PRO: Herr Strasser, Sie arbeiten sich in dieser Legislatur an diversen ethischen Themen ab, eines ist die Regelung der Suizidhilfe. Im Bundestag sind am 6. Juli zwei Gesetze durchgefallen, darunter eines, das Sie mit verantwortet haben. Kämpfen Sie weiter oder bleibt es nun dabei, dass es kein Gesetz gibt?

Benjamin Strasser: Es ist in der Tat enttäuschend, dass nach vielen Diskussionen und intensiven Arbeitsrunden in einer fraktionsübergreifenden Gruppe wir wegen 30 fehlender Stimmen eine Mehrheit im Deutschen Bundestag verfehlt haben. Die Betroffenen und ihre Angehörigen werden mit dieser Nicht-Entscheidung des Bundestages weiter einem unregulierten Zustand ohne jegliches Schutzkonzept ausgesetzt, in welchem Sterbehilfevereine aus der Suizidassistenz ein Geschäftsmodell gemacht haben. Als Gruppe mit den meisten Stimmen haben wir vereinbart, dass wir uns nach der parlamentarischen Sommerpause besprechen, ob und wie wir einen weiteren Anlauf für ein Gesetz wagen.

Ihr Gesetz wollte eine Legalisierung von Suizidhilfe in engen Grenzen. Selbstbestimmung am Lebensende. Für wen und wann gilt in Ihren Augen dieses Selbstbestimmungsrecht?

Es gilt für alle Menschen. Das Bundesverfassungsgericht hat festgelegt, dass jeder ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben hat und darüber hinaus auch das Recht, sich dabei der Hilfe Dritter zu bedienen. Zugleich sagt das Gericht aber auch: Der Staat muss das Leben schützen, indem er Rahmenbedingungen schafft, um dieses Recht auszuüben. Der Gesetzgeber darf den assistierten Suizid nicht auf bestimmte Personengruppen beschränken oder gar die Motive der Sterbewilligen hinterfragen. Auch nicht bei psychisch Kranken oder bei Menschen mit Sucht­erkrankungen. Das Verfassungsgericht hat den Rahmen massiv erweitert, in dem das Recht auf den assistierten Suizid eben nicht nur Schwerstkranken am Lebensende gewährt wird. Genau deshalb wollten wir ein Beratungs- und Schutzkonzept, das nicht nur auf dem Papier steht. Und wir stehen dafür ein, dass diese Art der Selbstbestimmung nicht durch kommerzielle Interessen beeinflusst werden darf.

Damit meinen Sie Sterbehilfevereine …

Ja. Man kann sie nicht verbieten, das sagt das Bundesverfassungsgericht. Aber ich erwarte, dass sich die Vereine an Mindestvorgaben und Standards halten, etwa die unabhängige Beratungspflicht Sterbewilliger.

Zur Person

Benjamin Strasser ist 36 Jahre alt und sitzt seit 2017 für die FDP im Deutschen Bundestag. Bis 2021 war der Katholik religionspolitischer Sprecher seiner Fraktion, heute ist er Parlamentarischer Staatssekretär unter Bundesjustizminister Marco Buschmann.

Die Bundesärztekammer warnte vor der Entscheidung im Bundestag, ihr Gesetz hätte Sterbehilfevereine aus der Schmuddelecke geholt, weil es deren Arbeit in gewissen Grenzen legalisieren wollte. Und sie kritisiert, dass ein permanenter Suizidwunsch etwa bei psychisch Kranken, nicht durch Beratungen sicherzustellen ist.

Der Umgang mit suizidwilligen Menschen ist nicht trivial. Ein entsprechender Facharzt ist dafür ausgebildet und muss beantworten, ob der Mensch medizinisch in der Lage ist, einen dauerhaften, ernsthaften und freien Willen zu bilden. Das sieht unser Gesetz vor. Der Umstand, dass Sterbehilfeorganisationen in Deutschland tätig sind, wird nicht durch unser Gesetz geschaffen. Diese gibt es schon seit Jahren. Unser Gesetz hätte dafür gesorgt, dass in einer unabhängigen Beratung über Alternativen gesprochen wird, anstatt den assistierten Suizid als einzige Möglichkeit zu zeigen, einen als nicht mehr lebenswert empfundenen Zustand schnell zu verändern oder zu beenden.

„Der Eindruck, da seien nun in den letzten Tagen vor der Sommerpause Gesetzesentwürfe durchs Plenum gepeitscht wurden, ist falsch.“

Benjamin Strasser im PRO-Interview

Ein Grund für die Ablehnung Ihres Gesetzes könnte folgender sein: Die Vorbereitungen auf die Abstimmung über die Gesetzesvorlagen erschienen chaotisch. Innerhalb von wenigen Wochen haben sich Parlamentariergruppen neu formiert, die Vorlagen wurden verändert, so kurzfristig, dass sie am Tag der Abstimmung nicht einmal in der Datenbank des Bundestages zu finden waren. Warum diese Eile?

Was ist daran chaotisch? Wir sprechen seit Jahren über die Entwürfe. Es gab eine sechsstündige Anhörung im Rechtsausschuss dazu. Danach haben wir alles ausgewertet und nochmals Änderungen vorgenommen. Das ist kein Chaos, das ist das normale parlamentarische Verfahren. Wir haben in den Fraktionen darüber gesprochen, Experten angehört und mehrfach in zwei Wahlperioden im Ple­num darüber diskutiert. Wir haben alle Positionen intensiv abgewogen. Es bringt nichts, das unangenehme Thema auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. Der Eindruck, da seien nun in den letzten Tagen vor der Sommerpause Gesetzesentwürfe durchs Plenum gepeitscht wurden, ist falsch.

Foto: PRO/Martin Schlorke
Benjamin Strasser im Gespräch mit PRO

Die Bundesärztekammer kritisiert, die Entwürfe seien problematisch gewesen, weil sie nicht psychiatrischer Expertise entsprächen.

Irgendwann ist die Zeit gekommen, eine Entscheidung zu treffen. Die Betroffenen werden seit Jahren in einer schwierigen Lebensphase allein gelassen. Das muss enden. Wir haben dazu einen verantwortbaren Vorschlag vorgelegt.

Nicht nur diese Lebensrechtsfrage treibt die Ampel um. Im Februar hat eine „Kommission reproduktives Selbstbestimmungsrecht“ die Arbeit aufgenommen. Es geht unter anderem um eine mögliche Abschaffung des Abtreibungsverbots. Warum muss diese Frage neu verhandelt werden?

Es geht um die Frage, ob und gegebenenfalls wie eine Regelung des Schwangerschaftsabbruchs außerhalb des Strafrechts möglich ist. Darüber gibt es seit Jahrzehnten eine Debatte. Der stellen wir uns.

Neu ist die prominente Beschäftigung damit innerhalb eines Ministeriums und einer extra eingerichteten Kommission. Lebensrechtler fürchten, dass Paragraf 218 fällt. Sie auch?

Ich nehme in meiner Bundestagsfraktion durchaus eine gewisse Skepsis wahr, was eine Abschaffung des Paragrafen 218 angeht. Aber ich werde mich nicht voreilig festlegen. Das gebietet auch der Respekt vor den unabhängigen Expertinnen und Experten in der Kommission.

„Ich empfehle auch der Bundesfamilienministerin, sich mit voreiligen Urteilen zurückzuhalten.“

Benjamin Strasser im PRO-Interview

Familienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte im Januar: „Wer anders als die Schwangeren selbst sollte entscheiden, ob sie ein Kind austragen möchten oder können?“

Ich empfehle auch der Bundesfamilienministerin, sich mit voreiligen Urteilen zurückzuhalten.

Die Bundesregierung verhandelt – zumindest in der Kommission – ohne Vertreter der Kirchen. Wieso?

Die Bundesregierung hat eine unabhängige Kommission eingesetzt. Dass darin die Kirchen nicht vertreten sind, hat maßgeblich mit dem Auftrag der Kommission zu tun. Die Kommission soll die gesellschaftliche Debatte nicht vorwegnehmen. Sie soll beantworten, welche Möglichkeit es überhaupt gibt, den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs zu regeln. Das ist eine vornehmlich wissenschaftliche Frage. Deshalb besteht die Kommission ausschließlich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In der Arbeitsgruppe zu Paragraf 218 StGB sind es insgesamt neun. Im Anschluss an die Arbeit der Kommission wird es eine breite Debatte geben. Und natürlich wird dann auch mit den Kirchen gesprochen werden. Sie sind – trotz Mitgliederschwund – ein wichtiger Gesprächspartner in solch ethisch sensiblen Fragen.

In einem früheren Gespräch mit PRO haben Sie das bis 2021 geltende Abtreibungsrecht als Jenga-Turm bezeichnet, aus dem kein Stein herausgenommen werden kann. Das Werbeverbot ist bereits herausgenommen, nun folgt vielleicht mehr. Macht Ihnen das als Katholik Bauchschmerzen?

Ich bin Christ, und das prägt meine Wertvorstellungen. Aber mein Anspruch ist es, eben nicht nur Politik für Christen zu machen, sondern für alle Menschen, ganz unabhängig von ihrer Glaubensüberzeugung. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist nicht nur ein christliches Gebot, sondern auch ein Auftrag unserer Verfassung. Diesem Ziel fühle ich mich verpflichtet. Unsere Verfassung schützt aber auch das Persönlichkeitsrecht der Schwangeren sowie ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Mir ist wichtig, dass Frauen und Paare in Notsituationen alle Informationen zur Verfügung haben, um eine gut fundierte Entscheidung treffen zu können. Das Werbeverbot in Paragraf 219a StGB stand sachlicher Aufklärung im Weg; deshalb war seine Abschaffung richtig. Die Frage nach Paragraf 218 ist eine ganz andere. Was den Jenga-Turm angeht: Der steht. Und die Abschaffung des Werbeverbots hat die Abtreibungszahlen nicht in die Höhe getrieben.

Tatsächlich steigt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche seit 2022 stark an, zuletzt um zehn Prozent. Vorher war sie seit 2001 fast durchgängig rückläufig.

Die Zahlen lassen nicht den Rückschluss zu, dass das mit der Abschaffung des Werbeverbots zusammenhängt. Es gibt nach wie vor eine Pflicht zur Schwangerschaftskonfliktberatung. Die Tatsache, dass Frauen und Paare durch die Abschaffung des Werbeverbots zusätzliche Informationen bekommen, macht einen Schwangerschaftsabbruch nicht wahrscheinlicher.

Kritik von Konservativen bekommen Sie auch an anderer Stelle: Ihr ­Ministerium hat einen Entwurf für ein Selbstbestimmungsgesetz für Trans­sexuelle erarbeitet.

Wir wollen, dass der Staat transgeschlechtliche Menschen nicht als Kranke behandelt. Das geltende Recht tut aber genau das: Wer seinen Geschlechtseintrag ändern lassen möchte, muss sich einem aufwändigen und entwürdigenden Begutachtungsverfahren unterziehen. Da kann sogar die Frage gestellt werden, welche Art der Unterwäsche man trägt. Und dabei geht es am Ende ja „nur“ um den Eintrag im Personenstandsregister. Mit medizinischen Eingriffen zum Beispiel hat unser Gesetz nichts zu tun.

Das Gesetz sieht vor, dass schon 14-Jährige mit Zustimmung der Eltern ihr Geschlecht offiziell beim Standesamt ändern lassen können. Also ­mitten in der Pubertät. Ist das nicht zu früh?

Vor einer Änderung des Geschlechtseintrags steht im Regelfall das soziale Coming-out als transgeschlechtlich. Und das hat für Jugendliche häufig erhebliche soziale Folgen. Schon deshalb ist die Annahme abwegig, Jugendliche würden einen solchen Schritt leichtfertig gehen. Und wie Sie richtig sagen: Es geht hier um eine gemeinsame Entscheidung von Eltern und Kind, nicht um eine Entscheidung des Kinds allein. Wichtig ist außerdem: Mit Operationen oder Hormonbehandlungen hat das Gesetz nichts zu tun; Operationen sind in aller Regel erst mit Volljährigkeit möglich.

Dennoch könnte eine Entscheidung über das eigene Geschlecht bei einem 14-Jährigen nicht endgültig sein.

Und das ist doch gut so! Wenn sich die Entscheidung zur Änderung des Geschlechtseintrags als falsch herausstellt, kann sie rückgängig gemacht werden. So sieht es unser Gesetzesentwurf vor. Die Zahlen, die wir aus anderen Ländern kennen, zeigen aber, dass sich solche Fälle im unteren einstelligen Prozentbereich bewegen, und je älter die Personen werden, desto seltener geschieht das. Die Entscheidung der Änderung des Geschlechtseintrags ist in der Regel einmalig.

Der Synodale Weg hat in einem seiner Papiere den Umgang der Kirche mit Transsexuellen kritisiert und den Papst aufgefordert, Menschen mit nichtbinärer Identität zu schützen. Teilen Sie die Kritik an Ihrer Kirche?

Ich wohne in einem kleinen Dorf. Es gibt bei uns eine transgeschlechtliche Person und ich erlebe, wie das ganze Dorf sehr wertschätzend mit dieser Person umgeht. Das zeigt mir, dass Menschen sich heute trauen, auf transgeschlechtliche Menschen zuzugehen. Vielleicht auch deshalb, weil sie heute sichtbarer sind. Transgeschlechtlichkeit gibt es nicht erst seit gestern, sondern sie ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Auch die Kirche muss transgeschlechtlichen Menschen wertschätzend begegnen und zeigen: Jeder ist gut, so wie er von Gott gemacht ist.

Herr Strasser, vielen Dank für das ­Gespräch.

Dieses Interview ist zuerst in der aktuellen Ausgabe des Christlichen Medienmagazins PRO erschienen. Abonnieren Sie PRO kostenlos hier.

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