Die CDU baut um.
An ihren geistigen Fundamenten, an der inneren Statik ihrer Strömungen, am Instrumentenkasten ihres politischen Stils. Es begann nach Armin Laschets Scheitern bei der Bundestagswahl und mit Friedrich Merz als neuem Parteichef.
Der von ihm geschätzte Historiker Andreas Rödder gab in einer Wahlanalyse zu bedenken, das „C“ könne in einer sich entchristlichenden Gesellschaft zur Barriere für Nichtchristen werden und „Exklusivität signalisieren, wo die Union eigentlich auf Integration“ ziele. Es gebe deshalb „gute Gründe für eine Flurbereinigung in der Namensfrage“ per Streichung des C oder per „Namenszusatz“.
Was man früher aus dem säkular-liberalen Spektrum der Partei erwartet hätte, kam nun von einem prononciert Konservativen. Nach erheblichem Protest, etwa des Vorsitzenden des Evangelischen Arbeitskreises der Union, Thomas Rachel, in der FAZ, zauberte die Grundsatzkommission unter dem Vorsitz Carsten Linnemanns als kleinere Lösung eine programmatische Zweitidentität aus dem Hut: „Wir als CDU sind bürgerlich“, heißt es, einem Fanfarenstoß gleich, in der beim letzten Parteitag nach kontroverser Debatte beschlossenen „Grundwerte-Charta“, die zur Basis eines neuen Grundsatzprogramms werden soll.
Das „Bürgerliche“ hat aber gegenüber dem „C“ weniger inhaltliche Substanz und ist zudem doppeldeutig: Soll „Bürger“ in französischer Unterscheidung der Citoyen oder der Bourgeois sein, also der an der Republik interessierte, engagierte Staatsbürger oder der Wohlstandsbürger, der sich im Eigeninteresse einer Partei der „Besserverdienenden“ anschließt?
Die „Charta“ kann noch so beteuern, die Tradition republikanischer Bürgerschaft zu meinen – in der Wahrnehmung droht die sprachlich gebräuchlichere Bedeutung den Sieg davonzutragen.
Wer „gutbürgerlich“ essen geht, zahlt mehr als derjenige, der sich nur den Schnellimbiss leisten kann. „Bürgerliche“ Wohngegenden sind weiße Häuser an der Beethovenstraße, nicht die Wohnblöcke der Vorstadt. Und der Citoyen wird zu Recht auch mit anderen demokratischen Parteien verbunden, er kann kein Spezifikum der CDU sein.
Der Erlöser ist der Sohn eines Zimmermanns
Eine betont „bürgerliche“ CDU droht also, zumal unter einem Vorsitzenden, der sich zur „gehobenen Mittelschicht“ zählte, in die Falle sozialer Unterscheidungsmerkmale zu tappen, die ihre Gründer vermeiden wollten. Vor Gott in der Kirchenbank sitzt der Generaldirektor auf Augenhöhe neben dem Arbeiter.
Das Christentum hat, so Jan Roß, „die egalitäre und demokratische Möglichkeit der Religion auf die Spitze getrieben“ und „die Unterschicht in die Heilsgeschichte eingeführt“: Der Erlöser ist Sohn eines Zimmermanns, nach etwas dubioser Schwangerschaft unter ärmlichen Verhältnissen zwischen Vieh im Stall geboren, in Gesellschaft mittelloser Hirten.
Aus ihm wird ein in den Tag hineinlebender Wanderprediger, der einen wenig vorzeigbaren Anhang um sich sammelt, mit Prostituierten und Kollaborateuren der Besatzungsmacht umgeht und als Unruhestifter hingerichtet wird.
Und dazu soll eine Partei passen, in der hinter dem Ex-Aufsichtsratschef der deutschen Sektion von „Blackrock“ alle stellvertretenden Parteivorsitzenden und nun auch der Generalsekretär der „Mittelstandsunion“ angehören? Eine beispiellose Unwucht in der Strömungsbalance der Union zugunsten „wohlsituierter“ Milieus.
„Nein, eine Partei muss einen weltanschaulichen Boden haben, auf dem sie steht!“, betonte Adenauer auf dem Bundesparteitag 1962 gegenüber ersten Zweifeln am „Werbewert“ des „C“, zu dem man „aus klaren Gründen prinzipieller Entschiedenheit stehen“ müsse. Er forderte, „die Frage der Opportunität in diesem Punkte überhaupt nicht zuzulassen“.
Das scheint trotz Kirchenkrise auch die große Mehrheit der heutigen Mitglieder laut der jüngsten digitalen Parteibefragung so zu sehen: „Dass sich die CDU bei ihrer Politik am ‚C‘ orientiert, also an christlichen Werten und Überzeugungen“, fanden 36 Prozent der Teilnehmer „sehr wichtig“ und weitere 42 Prozent „wichtig“, nur jeder Fünfte „weniger“ oder „gar nicht wichtig“.
Die konservativen Schlaumeier, die Friedrich Merz am Wertefundament der Partei herumschrauben ließ, gingen noch weiter.
Nicht nur, dass sie christliche Zentralbegriffe wie „Gott“ (der in einem Relativsatz verschwand), „christlich“, „Kirche“ oder „Nächstenliebe“ kleinmütig reduzierten und das christliche Menschenbild erst nach den Grundwerten erläuterten, statt diese im Licht des „C“ zu entfalten. Sie behaupteten auch noch, dass „bürgerliche“ Politik „Zuversicht stiftet“ – wo früher dem Glauben die Hoffnung entsprang; und dass die Partei beanspruche, „sinnstiftende“ politische Heimat zu sein – wo man die Sinnfrage früher klugerweise der Religion überließ.
Merz‘ Grundsatz-Chefdenker Rödder löste das „C“ bezeichnenderweise auch noch ins „B“ hinein auf, indem er das „Domradio“ wissen ließ: „Ich glaube, dass dieses ‚C‘ auf bürgerliche Werte setzt, die auf Freiheit und Pluralismus, Eigenverantwortung, auf Subsidiarität, auf Rechtsstaatlichkeit und auf Marktorientierung und Technologieoffenheit fußen.“
Klimaforschung als Beispiel für die Wahrheitsfrage
Das ist nicht nur eine Aufzählung mit wirtschaftsliberaler Schlagseite – als solle die CDU zu einer zweiten, größeren FDP werden –, sondern verdreht die Richtung: Die „Bürgerlichkeit“ der CDU hat im Unterschied zu jener der FDP, der Grünen oder der SPD auf christliche Werte zu „setzen“.
Zur Anthropologie des Christentums zählte Rödder, „dass der Mensch fehlbar ist, dass er nicht die vollständige Wahrheit erkennt“ und man daher „auch nicht mit Wahrheitsansprüchen in die Politik“ gehe – was, von ein paar grundlegenden Wahrheiten abgesehen, die Politik eben doch braucht, immerhin noch stimmt.
Dass er dann aber als Beispiel für nötige Skepsis gegenüber behaupteten Wahrheiten ausgerechnet die „Klimapolitik“ anführte, bei der es aber nicht um ideologische Wahrheitsansprüche, sondern um die Kenntnisnahme wissenschaftlicher Forschungsbefunde und Prognosen geht, zeugt entweder von intellektueller Kategorienschwäche oder von einem tendenziösen, interessegeleiteten Umgang mit dem Gehalt des „C“.
Hier scheint auch ein Grundproblem des nach dem ZDF-Sommerinterview vollends ins Straucheln geratenen Parteivorsitzenden auf: Ihm fehlt es an Urteilskraft in der Auswahl seiner Mitarbeiter und Berater.
Die hohe Personalfluktuation in seiner Umgebung fällt ebenso auf wie Entgleisungen seiner Unterstützer in Sozialen Medien. Ungezügelte Impulse und mangelndes Einfühlungsvermögen führen auch bei Merz selbst immer wieder zu verbalen Ausrutschern: von seinen Migrantenkinder-„Paschas“ und (ukrainischem) „Sozialtourismus“ über das Lob „brillant“ für die in Rolle (Uniform), Form (Gestammel) und Inhalt (gruppenbezogene Abwertungen) missratene Pechstein-Rede bis hin zur erratischen „Hauptgegner“-Suche und „Alternative für Deutschland, mit Substanz“.
Warum sollte sich die stolze, staatstragende Volkspartei eines Adenauer, Hermes, Ehlers und Gerstenmaier, gefolgt von den weltweit respektierten Langzeitkanzlern Kohl und Merkel, ins begriffliche Korsett einer in großen Teilen rechtsextremistischen Partei zwängen – und das, nachdem sie von Walter Lübckes christlichem Zeugnis todernst an ihre antifaschistischen Ursprünge erinnert wurde?
Ja, es kann vorkommen, dass Demokraten in Parlamenten und Räten abstimmen wie Mandatsträger radikaler Parteien. Man darf sich von deren Voten weder positiv noch negativ abhängig machen und wird bei Politikern mit gefährlicher Ideologie im praktischen Einzelfall auch mal eine vertretbare Position finden. Aber deshalb muss ein CDU-Bundesvorsitzender noch keine Ausnahmen von Unvereinbarkeitsbeschlüssen und Kooperationsverboten vage in den Raum stellen – schon gar nicht im Alleingang, ohne sich zuvor in den Gremien der eigenen Partei abzustimmen.
Zur Person
Dr. Andreas Püttmann (Bonn) ist Politikwissenschaftler und Publizist. Der Katholik arbeitete als Referent für Begabtenförderung bei der Konrad-Adenauer-Stiftung und ist Mitglied der Christlichen Medieninitiative pro. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zum Beispiel „Gesellschaft ohne Gott“ (2010) und kommentiert regelmäßig das politische Geschehen.
Politische Führung agiert umsichtig, nimmt mit und prescht nicht vor, erst recht nicht in so schludriger Diktion, dass man sich nachher öffentlich selbst interpretieren und widerrufen muss. Stattdessen hätte sie in einem Parteiausschlussverfahren ohne Zaudern durch alle Instanzen zu ziehen, wenn ein prominentes Parteimitglied mit Gruppenanhang hetzerisch die Neue Züricher Zeitung mit „Westfernsehen“ verähnlicht und von „rot-grüner Rassenlehre“ und „eliminatorischem Rassismus gegen Weiße“ faselt – um nur wenige Entgleisungen aus dem langen Sündenregister des Herrn Maaßen zu erwähnen.
Der christlich-demokratische Charakter einer Partei zeigt sich nicht nur in ihren Inhalten, sondern auch im Habitus ihrer Politiker. „Respekt, Anstand und Fairness“ gehören für 80 Prozent der CDU-Mitglieder zu den „besonders wichtigen“ Verpflichtungen aus dem „C“ im Namen der Partei.
Den „Einsatz für den Zusammenhalt in der Gesellschaft“ zählen fast 70 Prozent dazu. Spalterisches, übermäßig polemisches und populistisches Reden steht Christdemokraten nicht gut an. In beiden Dimensionen, inhaltlich und habituell, hat Friedrich Merz nicht überzeugt.
Seine persönlichen Umfragewerte in der Kanzlerfrage bleiben konstant hinter denen seiner Partei zurück. Seine Versprechungen an CDU-Wählerzuwachs und zur AfD-Reduzierung hat er weit verfehlt. Seine Kanzler-Ambition, bar jeder Erfahrung in Regierungsämtern, verströmte von vornherein einen Geruch von Hybris und Merkel-Revanche. Mittlerweile kann er sich von diesem Ziel verabschieden.
Sein hartnäckiger Förderer Wolfgang Schäuble sollte ihm sagen: „Friedrich, isch over!“