„Prüfet alles und behaltet das Gute“ (1. Thessalonicher 5,21) – wenn tausend Worte an unser Ohr dringen, ist dieser Rat des Paulus Gold wert. In der Flut der Meinungen, der Bibelauslegungen, der dogmatischen Behauptungen und der zum Teil einander entgegen gesetzten ethischen Forderungen brauchen wir Orientierung. In der Flut der Worte braucht es Konzentration auf das Wesentliche. Die entscheidende Frage ist: Worauf hören wir? Und worauf nicht?
Ich staune über Paulus: Alles sollen wir prüfen. Keine Aussage gilt als gegeben, als selbstverständlich oder als unumstößlich. Das ist bemerkenswert. Niemand wird davon ausgenommen. Egal, wer spricht – was er oder sie sagt, soll geprüft werden. Auch wenn es große Namen sind, vertrauenswürdige Personen, gefragte Redner: Prüft alles!
Auch große Geister können irren. Auch etablierte Leitungspersonen können fehl gehen. Auch Menschen mit eindrucksvoller Lebensleistung können in hohem Alter zu Irrlehrern werden, Gemeinden verwirren und Menschen irritieren. Geistliche Autoritäten mögen mit hohem Anspruch auftreten, sie mögen viele Fans und Follower haben, aber sie können daneben liegen. Alter schützt vor Torheit nicht. Jugend noch weniger. Das ist überall so, auch in Kirchen und Gemeinden.
Mit all dem, was so geredet wird – Paulus hat seine eigenen leidvollen Erfahrungen damit gemacht. Darum sein Plädoyer fürs Prüfen. Mit Petrus etwa hatte er heftige Auseinandersetzungen. Wer im Galaterbrief und in der Apostelgeschichte liest, bekommt davon eine Ahnung. Selbst Apostel können irren. Mit manchen Aussagen zumindest. Das schließt nicht aus, dass sie höchste Verdienste haben, hoch zu achten sind und Bleibendes hinterlassen habe. Aber perfekt war und ist niemand. Darum gilt es zu prüfen: Prüft, was sie sagen – prüft sie alle, die Funktionäre und Verantwortungsträger, die leitenden Frauen und Männer, die jungen Influencerinnen genauso wie die alten weißen Männer.
Das Alte und Vertraute ist zu prüfen. Genauso wie das Neue und Unbekannte. Alte Gewohnheiten sind nicht schon deshalb gut, weil sie alt sind. Und Neues ist nicht deshalb schlecht, weil es neu ist. Aber auch nicht andersrum. Es kann sein, wir haben jahrzehntelang die Bibel falsch ausgelegt, sind einseitigen Lehren aufgesessen, waren nicht umsichtig genug. Es kann aber auch sein, dass wir neuem Unsinn hinterherlaufen, der in irgendeiner Weise verlockend erscheint, und Gutes einfach über Bord werfen. Es gilt für Trends und Traditionen: Prüfet alles! Alles? Ja, wirklich alles. Das Alte und das Neue.
Auf den Maßstab kommt es an
Die entscheidende Frage ist: Woran prüfen wir das Alte und das Neue, eben alles? Was ist der Maßstab? Was sind Kriterien für die Prüfung?
Der Maßstab für alles ist für Paulus klar. Er liegt in dem, was er von Herzen liebt und was ihn trägt. Maß und Mitte für alles ist das, was Gott sagt. Sein Wort. Sein Reden. Maßstab ist nicht, was im Trend liegt. Auch nicht, was wir gewohnt sind und schon immer so war. Gottes Maß ist sein Wesen, seine Liebe zu dieser Welt, zu allen Menschen, die ihn in die Welt treibt. Das Maß ist Gottes Wille, wie er sich in der Schrift zeigt. Das Maß ist letztlich Jesus Christus selbst.
Bemerkenswert bei der Jahreslosung ist der durch und durch positive Fokus. Es geht gar nicht um das Negative. Paulus lenkt unseren Blick nicht auf das, was zu verwerfen ist. Das Kritische steht nicht im Mittelpunkt, sondern das Gute: „Behaltet das Gute!“
Wir neigen dazu, immer auf Schädliches zu achten. Wir beklagen, wer warum und wofür zu kritisieren sei. Es gibt Christenmenschen, die sitzen in Gottesdiensten ständig auf der Lauer, ob die Pastorin oder womöglich der Bischof etwas Falsches sagen. Ganze Medienportale leben davon, dass wir uns an dem weiden, was wir für falsch und schädlich halten. Wir entsetzen und empören uns nur allzu gerne.
Die Jahreslosung setzt einen ganz anderen Akzent: Fokus auf das Gute! – Diese Fokussierung brauchen wir. Natürlich ist auch immer wieder Kritik nötig und geboten, auch deutliche und markante. Aber was uns grundsätzlich in unserem Miteinander in Gemeinde und Gesellschaft leiten sollte, ist die Ausrichtung auf das Gute. Das macht uns nicht nur selbst dankbarer und gelassener, sondern baut auch andere auf.
Steffen Kern ist Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes. Dieser Text ist eine gekürzte Fassung seines Beitrags „Freie Bahn für das Gute“ aus Christoph Morgner (Hg.): „Prüfet alles und behaltet das Gute. Das Lesebuch zur Jahreslosung 2025“, Brunnen-Verlag Gießen, 2024, brunnen-verlag.de