„Focus“-Chefredakteur über das „Heimweh nach Gott“

Wer sich wie manche Religionskritiker eine "Befreiung" vom Christentum in Staat und Gesellschaft wünsche, verachte die Gefahr, die von einer gottlosen Politik ausgehe. Dies schreibt der Chefredakteur des Magazins "Focus" in der aktuellen Ausgabe in einem Kommentar.
Von PRO

Weimer, der Gründungs-Chefredakteur und Herausgeber des Magazins "Cicero" war und 2010 Chefredakteur des "Focus" wurde, geht in seinem Beitrag auf eine Äußerung des Journalisten Dirk Kurbjuweit ein, der gefordert hatte, Staat und Religion müssten so weit voneinander getrennt werden, dass der Staat sich vom Christentum "befreit". Weimer kontert: "Wir müssen uns schon deshalb nicht ‚befreien‘, weil wir schon befreit sind." Die Bundesrepublik habe ein "souverän-entspanntes Verhältnis zur Religion", fügt er hinzu. "Sie ist porentief zivil."

Der Journalist, der auch Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt" war, ist überzeugt: "Wenn nun die religiösen Saiten allenthalben wieder so laut schwingen, dass die Religionskritiker nervös werden, dann hat das zuvorderst mit einer Krise der Säkularisierung zu tun." Die Säkularisierung sei ein "Risiko". "So wie es eine Pathologie des Glaubens gibt, so droht auch eine Pathologie der Wissenschaft."

"20. Jahrhundert war das gottloseste"

Wenn man Gott aus Politik und Leben verbanne, gerate man in ein anderes Extrem. Dies sei zum Ende des 19. Jahrhunderts geschehen, und die Folgen habe man im darauffolgenden Jahrhundert gesehen: Verblendung von Rassen- und Klassenideologien. "So war das 20. Jahrhundert im doppelten Sinne eines der gottlosesten der Menschheitsgeschichte." Die "großen ideologischen Ersatzreligionen" hätten die Hölle über Europa gebracht. Der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn habe daraufhin zur Verteidigung der Demokratie ausgerufen: "Holt Gott zurück in die Politik!"

Gerade die Demokratie brauche einen Rückbezug auf Religion, so Weimer. Dies zeige sich etwa an der "Würde des Menschen", die auf einer Grundannahme des Christentums fuße. In der christlichen Religion sehe er wie der Verfassungs- und Steuerrechtler Paul Kirchhof die "aktuelle Wirkungsgrundlage" für die freiheitliche Demokratie. Weimer gibt als Beispiel: "Wenn die Mehrheit nichts daran findet, dass man Menschen klont, ältere Kranke ’sterbehilft‘, Behinderte abtreibt, wie kommt sie dann zur kollektiv-ethischen Erkenntnis, dass das trotzdem nicht in Ordnung ist?" Er fügt hinzu: "Unsere Kultur sagt uns, dass christliche Werte wie Demut, Würde, Nächstenliebe mehr sein sollten als niedliche Accessoires einer Welt, in der das Eigentliche nur das Machbare und Moralfreie sein soll."

Religion sei eine Gegen-Macht, die selbst Diktaturen zu Fall bringen könne, ergänzt der Journalist. Ein vom Christentum "befreites" Europa sei kein Europa mehr, so Weimer. "Insofern bedeutet ein Comeback des religiösen Bewusstseins eine Wiederkehr des Kulturbewusstseins." Weimer schließt: "Das neue Heimweh nach Gott stillt man nicht mit einer finalen Befreiung vom Christentum. Man sollte ihm entgegengehen – auf dem Weg zu sich selbst." (pro)

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