„Fischli“ in Winterthur – NZZ-Reporterin besucht Schweizer Freikirchen-Dorf

Mitten in der Stadt Winterthur in der Nordschweiz gibt es ein freikirchliches Mehrgenerationen-Dorf namens „Townvillage“. Eine Reporterin der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hat das Dorf besucht und trifft auf die „Fischli“, wie die Freikirchler in der Schweiz genannt werden.
Von Jörn Schumacher
Im „ersten freikirchlichen Dorf der Schweiz“, im „TownVillage“ lässt die Freikirche GvC Winterthur Menschen aus aus allen Generationen, sozialen Schichten und kulturellen Hintergründen wohnen.

Pastor Johannes Wirth hat „früh Karriere gemacht – als Versager“, wie er der Reporterin der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) sagt. Mit 14 Jahren schloss er sich der autonomen Jugend in Zürich an, Drogen und Alkohol gehörten zum Alltag. Wirth ging früh von der Schule ab und lebte von immer wechselnden Jobs. „Ich war voller Selbstzweifel. Ich suchte Anschluss, wollte irgendwo dazugehören.“ Als Sohn eines Pfarrers sei er zwar mit den christlichen Werten groß geworden, doch sein Umgang mit der Religion sei locker gewesen. „Als junger Rabauke war Glauben für ihn Nebensache“, schreibt NZZ-Autorin Sascha Britsko. Wirth heiratete, stürzte jedoch in eine Lebenskrise. Beide Ehepartner wandten sich wieder der Kirche zu, genauer gesagt, einer Freikirche, und das habe ihre Ehe gerettet.

Wirth hatte eine Vision, eine Jugendgruppe aufzubauen und sich um Drogensüchtige zu kümmern. Im Jahr 1990 war Wirth 35 Jahre alt und Pastor der Jugendgruppe der evangelischen Gemeinde von Christen (GvC) in Hegi. Die NZZ berichtet: „Wirth kniet vor seinem Bett und betet. ‚Jesus, was soll ich tun?‘ (…) Er hat gerade seinen gut bezahlten Job als Sportartikel-Einkäufer aufgegeben, um Drogensüchtigen beim Entzug zu helfen.“ Und es kamen viele Menschen zur Rehabilitation, und Wirth wusste nicht, wohin mit ihnen. „Also tut Wirth das, was er in so einem Moment immer tut: Er fragt Gott.“

„Erste generationenübergreifende Wohnsiedlung, erbaut von einer Freikirche“

Beim Beten habe Wirth eine Vision gehabt. „Und plötzlich sah ich viele Häuser. Ich sah ein großes Areal, mit verschiedensten Menschen aus den unterschiedlichsten Generationen, in unterschiedlichen sozialen Situationen. Gesunde, Kranke, Drogensüchtige, Kinder, Alte. Ich wusste, es gibt ein Restaurant, ich wusste, hier werden Leute gepflegt, ich wusste, es gibt psychisch kranke Leute, die den Senioren etwas vorlesen. Jeder ist von Wert, und jeder dient dem anderen mit seinen Gaben.“

30 Jahre später ist diese Vision Wirklichkeit geworden. Die NZZ-Reporterin berichtet von der „ersten generationenübergreifenden Wohnsiedlung, erbaut von einer Freikirche“, im Stadtzentrum Neuhegi bei Winterthur in der Nordostschweiz. Der Name „Townvillage“ lässt anklingen, dass es sich um ein „Dorf in der Stadt“ handelt.

Mittlerweile ist Wirth 65 Jahre alt, Seniorpastor der Freikirche GvC Hegi und Präsident der Quellenhofstiftung. Die Siedlung gehört zu 80 Prozent dieser Stiftung, die restlichen 20 Prozent gehören der Kirche. Die von Wirth gegründete Stiftung war „der Anfang eines Projektes, das es in der Schweiz so noch nie gegeben hat“, so die NZZ. Neben Wohnraum gebe es hier ein Restaurant, einen Coiffeur, eine Physiotherapeutin, eine Ernährungsberaterin, einen Finanzberater, eine ambulante Pflegeinrichtung, eine Kinderkrippe, eine 24-Stunden-Rezeption und einen Eventsaal für die Gemeinde.

Die Stadt Winterthur gelte als „Freikirchen-Mekka“, so die Zeitung. Das sei historisch bedingt, erklärt der Religionsexperte der evangelischen Informationsstelle, Georg Otto Schmid. „Das Tösstal als Zürichs ‚Bibelgürtel‘ ist Brutstätte zum Teil kurioser religiöser Groß- und Kleingemeinschaften, die das gesellschaftliche Leben der Region prägen. Jetzt besitzen sie gar eine eigene Siedlung.“ Mit der Gentrifizierung Ende der 1990er Jahre seien die „Fischli“, wie Freikirchler in der Schweiz umgangssprachlich genannt werden, in die Städte „geschwommen“. Schmid geht davon aus, dass etwa drei Prozent der Winterthurer Bevölkerung einer Freikirche angehören. Damit liegt die Stadt einen Prozentpunkt über dem Schweizer Durchschnitt.

Die Wohnungen des „Townvillage“ wurden nach einem festgelegten Schlüssel vergeben: 60 Prozent Senioren, 40 Prozent andere. Ein Drittel stamme aus dem Umfeld der Kirche, ein Drittel seien Christen aus anderen Kirchen, ein Drittel übrige. Bewerbungen habe es „einen Haufen“ gegeben, sagt Geschäftsführer Joe Leemann. Alle Bewerbenden wurden zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Die Stadt Winterthur unterstützt das Projekt mit einem Solidaritätsbeitrag von 10.000 Franken (9.257 Euro). Zusätzlich bezahlte das kantonale Sozialamt für zwei Wohnungen, die für Sozialhilfebezüger zur Verfügung stehen werden.

Wirth betont, dass alles darauf gründe, dass Gott zu ihm spreche. Durch drei aufeinanderfolgende Träume sei er von einem Tag auf den anderen von seinen Depressionen geheilt worden. Und ein Traum habe ihm vor einigen Jahren sein nächstes Projekt offenbart: Er möchte eine Firma gründen, in der Wirth Menschen in einem persönlichen Mentoring sein Wissen aus verschiedenen Bereichen weitergibt. Der Name: „Leadership Journey“. Im nächsten Monat soll ein Buch dazu erscheinen. Die NZZ: „Ohne seinen Glauben, sagt Wirth, wäre das alles nicht möglich gewesen.“

Von: Jörn Schumacher

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