In dieser Woche ist der Kinofilm „Die Kinder aus Korntal“ angelaufen. In der Dokumentation berichten Betroffene von Missbrauch und Gewalt, den sie in den diakonischen Einrichtungen erlebt haben. Der Film von Regisseurin Julia Charakter erzählt die Geschichte aus der Opferperspektive. Sechs frühere Heimkinder sprechen über ihre leidvollen Erfahrungen in den 1950er bis 1980er Jahren.
Die heute in Korntal Verantwortlichen sind skeptisch, ob der Film die richtige Wirkung erzielt. Sie kritisieren, dass gerade aufgebautes Vertrauen damit direkt wieder zerstört werden könnte. Die beiden Vorsteher der Brüdergemeinde Johannes Luithle und Dieter Weißer sowie die beiden Geschäftsführer der Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde in Korntal und Wilhelmsdorf, Andreas Wieland und Gerhard Haag, beziehen jetzt öffentlich Stellung.
Sie haben darüber hinaus je einen offenen Brief an die Regisseurin und die betroffenen Heimkinder von damals veröffentlicht. Die Verantwortlichen bedauern, dass dieses Unrecht im christlichen Umfeld geschehen ist, weil es dem „Geist des Evangeliums“ widerspreche. „Wir bedauern das Leid der ehemaligen Heimkinder sehr und stehen zu unserer Schuld, die in unseren Einrichtungen geschehen ist“, heißt es in der öffentlichen Stellungnahme.
In dem offenen Brief „an die betroffenen Heimkinder im Film und darüber hinaus“ kommt das Wort Schuld nicht vor. Dort heißt es: „Jegliches Unrecht, jeder einzelne Missbrauch ist einer zu viel. Das ist uns bewusst. Und gemeinsam kämpfen wir dafür, dass solches Unrecht nie wieder geschehen darf.“
Es habe die Protagonisten sicher viel Kraft und Mut gekostet, den erlittenen Missbrauch öffentlich zu machen. Um mit den Betroffenen in Kontakt zu bleiben, lade man diese zu Begegnungstreffen ein: „Wir wünschen uns sehr, dass der Film das bisherige langsam gewachsene Vertrauen nicht wieder zunichte macht“, schreiben sie in ihrem offenen Brief an die Betroffenen. Es gehe darum, die ehemaligen Heimkinder zu begleiten und zu unterstützen.
„Viele Schutzmaßnahmen umgesetzt“
In der öffentlichen Stellungnahme kritisieren die Verfasser, dass der Film den Eindruck erwecke, dass die „Ev. Brüdergemeinde und ihre Diakonie weiterhin Unrecht legitimieren, vertuschen oder bagatellisieren würden“. Der Film blende auch den zeitlichen Abstand zu den damaligen Ereignissen und heute weitgehend aus. Der Zuschauer gewinne den Eindruck, dass die Gemeinde heute noch ein Ort der Gewaltausübung wäre, was so nicht stimme.
Seit den Vorfällen habe die Einrichtung verschiedene Schutzmaßnahmen ergriffen. Es gebe deutlich mehr Fachpersonal. Zudem habe man die Größe der Wohngruppen angepasst, pädagogische Standards verbessert und Schutzkonzepte umgesetzt. In der Zwischenzeit habe es auch eine umfassende, wissenschaftlich unabhängige Aufklärung gegeben, damit die Einrichtung ein „Ort der Hoffnung“ sein soll.
Einseitige Polarisierung
Der Regisseurin werfen Luithle, Weißer, Wieland und Haag vor, dass der Film einseitig polarisiere. Die Verantwortlichen wünschen sich einen weiteren Film mit dem Titel „Die Kinder aus Korntal Teil II“, „der dem Anspruch einer faktenbasierten Dokumentation gerecht wird“.
Auch die Machart des Films bereitet ihnen Probleme. Der Film werde „als Dokumentarfilm beworben“, stellen die Verfasser fest. Auf den ersten Blick scheine er diesem Anspruch auch gerecht zu werden, „da eigentlich nur O-Töne bzw. Originalbilder“ gezeigt würden. Darin liegt nach Ansicht der Verfasser aber ein Problem. Die Aussagen ehemaliger Heimkinder seien mit denen von Vertretern der Brüdergemeinde „in einer Art und Weise zusammengeschnitten, durch die die Rollen klar festgelegt sind“. Der Zuschauer erhalte so ein unzureichendes und verzerrtes Bild über die Evangelische Brüdergemeinde in Korntal, ihre Diakonie, den Pietismus in Württemberg und über geistliche Leitungspersonen von früher und heute.
Die Verfasser weisen in dem Schreiben an die Regisseurin auf den 300-seitigen „umfassenden, wissenschaftlich unabhängigen“ Bericht zur Aufklärung des Missbrauchs hin und schreiben danach: „Im Film werden hingegen Historie und Gegenwart nicht klar voneinander getrennt.“ Kein Wort werde darüber verloren, dass sich seit den 1980er Jahren die „Zustände“ in den Kinderheimen „völlig gewandelt“ hätten.
Die Unterzeichner werfen der Regisseurin vor, dass der Film einen gegenteiligen Effekt erzielt. Es fühle sich jeder darin bestätigt, „der sich sowieso von Kirche und Gemeinde distanzieren und verabschieden“ wollte. Der Film jedenfalls habe die Chance vertan, „die unabhängige und zielgerichtete Aufarbeitung in der Diakonie und der evangelischen Brüdergemeinde mit den betroffenen Heimkindern und den ehemaligen Mitarbeitenden voranzutreiben“.