Es ist die Andacht zum Ende der Veranstaltung, Lobpreis-Musik erklingt von der Bühne am Brandenburger Tor, als mehrere Gegendemonstranten nach vorne und hoch auf die Bühne rennen. „My body, my choice, raise your voice!“, rufen sie. Die Polizei greift sofort ein – sie habe gute Arbeit geleistet, heißt es danach vom „Bundesverband Lebensrecht“ (BVL), der den „Marsch für das Leben“ organisiert hat. Es sei zu keiner Eskalation gekommen und nur eine Störung von drei Minuten gewesen.
Laut einem Polizeisprecher hat es sich bei den Störern um 17 Personen, sieben Männer und zehn Frauen, gehandelt. Sie seien alle für eine Überprüfung festgenommen worden. Etliche Gegendemonstranten hatten sich schon zu Beginn der Veranstaltung auf der anderen Seite des Brandenburger Tors versammelt und „Weg mit euch“ skandiert.
„Fundis, raus aus Berlin“
Zudem mischte sich bei der anfänglichen Kundgebung ein Marsch-Gegner unter die Lebensrechts-Demonstranten und nutzte eine Gedenkminute für ungeborene Kinder. „Verpisst euch, Scheiß-Fundis!“, rief der junge Mann in die Stille hinein. „Geht raus aus Berlin!“ Er ließ sich von der Polizei dann aber anstandslos aus der Menge begleiten.
Trotz dieser Störungen haben viereinhalbtausend Menschen bei herrlichem Wetter am Brandenburger Tor und auf einem anschließenden Marsch in Berlin-Mitte für das Recht eines jeden Menschen auf Leben demonstriert. Diese Teilnehmerzahl teilte der „Bundesverband Lebensrecht“ mit. Der Zusammenschluss deutscher Lebensrechtsorganisationen hatte wie jedes Jahr zu dem Marsch aufgerufen, der zeitgleich auch in Köln stattfand.
„Wir werden immer mehr und die Gegner werden immer weniger, das ist ein gutes Zeichen“, sagt die BVL-Vorsitzende Alexandra Maria Linder gegenüber PRO. Den Gegenwind sieht sie als „Angst vor der Wahrheit“, wie sie bei der Kundgebung von der Bühne rief. „Und der Angst, dass wir uns vielleicht doch mit einer guten und zugewandten Argumentation durchsetzen können.“
Legalisierung von Abtreibung?
Denn die diesjährigen Märsche finden vor dem Hintergrund einer bekannten, aber erneut entbrannten Debatte statt: Sollen Abtreibungen grundsätzlich noch strafbar sein? Zurzeit gilt in Deutschland: Ein Schwangerschaftsabbruch ist bis zur zwölften Woche nach der Empfängnis straffrei, wenn vorher eine Beratung stattgefunden hat. Straffreiheit geben auch bestimmte medizinische Gründe oder eine Vergewaltigung. Laut Gesetz sind das alles aber Ausnahmen, grundsätzlich ist eine Abtreibung strafbar.
Dagegen hatte sich nun Mitte April eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission ausgesprochen. In der Folge positionierte sich die SPD-Bundestagsfraktion mit einem Papier klar für eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Dasselbe fordern auch die Grünen. Kritik und Widerstand gibt es aus den Reihen der Union. Auch die FDP scheint zumindest uneinig.
Debatte nimmt an Fahrt auf
Seitdem hat sich die Debatte noch einmal verschärft. Druck in Richtung einer Entscheidung macht ein Bündnis von Verbänden und Aktivisten, das vor Kurzem eine zwölfwöchige Kampagne für die Legalisierung startete. Das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ rief zudem zur Unterzeichnung einer entsprechenden Petition auf.
Unterstützer dieser Forderungen sind heute auf der Gegenseite des Marsches. Der Versuch von PRO, Teilnehmer dort zu befragen, scheiterte allerdings. Überwiegend junge Frauen, meist schwarz gekleidet, wollten sich nicht äußern. „Fragen Sie jemand anderen“, lautete die Antwort nicht nur einer jungen Frau, die ein Schild mit der Aufschrift „Gegen das Leben“ hochhielt.
Abtreibung hat Folgen
Offener geben sich die Teilnehmenden des „Marsches für das Leben“. Ein Paar mittleren Alters etwa ist extra aus Hildesheim angereist. „Wir sind dabei, weil uns das Thema bereits persönlich anging“, so der Mann. „Wir hatten beide – unabhängig voneinander – in Studentenzeiten eine Abtreibung. Wir wissen, was das bedeutet. Es ist ein wichtiges Anliegen, den Kindern im Mutterleib, die keine Stimme haben, eine Stimme zu geben.“
Sie habe selbst als junge Frau abgetrieben, sagte seine Partnerin. „Es hat einfach Folgen. Mir fehlte in jungen Jahren die Aufklärung darüber und ich bedaure heute total, dass das passiert ist.“ Sie kenne auch Frauen, die letztlich nicht abgetrieben hätten und heute froh darüber seien. Eine Legalisierung von Abtreibungen, wie sie zurzeit wieder diskutiert wird, hält sie für problematisch. „Weil dann ja auch die Beratung wegfällt und nicht mehr aufgezeigt wird, welche Folgen es hat, und auch nicht, welche Unterstützung Frauen bekommen können.“
„Ich wünschte von ganzem Herzen, dass wir diese Märsche nicht mehr machen müssen“, sagte BVL-Mitbegründer Hartmut Steeb von der Bühne. Aktuell ist das nicht in Sicht: Die Zahl der Abtreibungen ist mit rund 106.000 gemeldeten Fällen laut dem Statistischem Bundesamt im Jahr 2023 erneut gestiegen. Das entspricht einem Anstieg von 2,2 Prozent. Auch das erste Quartal 2024 liegt bereits um 2,3 Prozent höher als der entsprechende Vorjahreszeitraum.