Geschichte in Echtzeit nacherleben: Das hat das Projekt von SWR und BR in den letzten zehn Monaten möglich gemacht. Follower von @ichbinsophiescholl konnten die Widerstandskämpferin in den letzten Monaten ihres Lebens begleiten, als hätte die junge Studentin selbst damals Instagram benutzt. Am 22. Februar 1943 wurde sie vom NS-Regime unter anderem wegen Landesverrat verurteilt und hingerichtet. Sie war damals erst 21 Jahre alt. Anlass für den Start des Projekts war Scholls 100. Geburtstag am 9. Mai 2021 gewesen (PRO berichtete).
Ein Projekt zum Mitfühlen
Die Instagram-Seite ist gefüllt mit Posts von Sophie Scholl selbst, die ihren Alltag teilt. Gespielt wird sie von der Schauspielerin Luna Wedler. In regelmäßigen Posts und Videos im Selfie-Stil erzählt sie von ihrem Tag, davon, was sie in der Uni erlebt und was sie beschäftigt. Es ist so, als würde man einer Freundin zuhören. Oder dem Lieblings-Social-Media-Star.
Und so erlebten die Nutzer seit Mai 2021 quasi in Echtzeit, wie Sophie ihr erstes Flugblatt in die Hände bekommt und durch ihren Bruder Hans Teil der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ wird. Gleichzeitig bekommen die Follower Einblicke in ihre Liebesbeziehung zum Offizier Fritz, ihre Freundschaften und ihre Familie.
Der Instagram-Kanal hat über 750.000 Follower (Stand: März 2022). Ulrich Herrmann, einer der Macher, erklärte gegenüber dem Spiegel die Zufriedenheit mit dem Projekt.
Doch es gibt auch Kritik an der Instagram-Seite. Unter anderem fand Jan Böhmermann in seiner Sendung ZDF Magazin Royale am 18. Februar scharfe Worte. Er kritisierte vor allem, dass die Instagram-Sophie-Scholl mit der historischen Sophie Scholl nur noch sehr wenig zu tun habe. Bei Geschichte ginge es doch um Fakten. Aber die würden an einigen Stellen vernachlässigt.
Als Erklärung dafür lässt sich das Ziel der Macher heranziehen. Sie wollten eine fiktionale Geschichte erzählen, die lediglich auf einer realen Figur basiere, wie Herrmann im Spiegel-Interview ausführte. Eine Bildungslücke könnten sie gar nicht füllen, betont die Social-Media-Redaktionsleiterin Suli Kurban im Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Stattdessen wollten sie zum eigenständigen Weiterdenken und Recherchieren bei ihrer jungen Zielgruppe anregen.
Interaktion mit Followern prägt das Projekt
Die Follower waren offenbar interessiert dabei: Um die 150 Kommentare zählen die meisten Posts. Die Schreiber sympathisieren mit Sophie, beantworten ihre Fragen und tauschen sich über den historischen Kontext des Geschehenen aus. Mit dabei auch oft das Redaktionsteam, das entweder in der Rolle von Sophie antwortet oder kenntlich als Redaktion historischen Kontext liefert.
Diese Interaktion und den Austausch mit der Community erachtet die Redaktion als „die Kernkompetenzen“ des Kanals, wie sie auf PRO-Nachfrage mitteilte. Ihnen war es dabei „besonders wichtig, die Fragen zu teils komplexen historischen Sachverhalten so zu beantworten, dass ein wirklicher Mehrwert für die Community erreicht werden konnte“.
Doch dieser Mehrwert komme nicht nur von der Redaktion. Nora Hespers, freie Journalistin und Podcasterin, beobachtete, dass es oft Nutzer seien, die historischen Kontext liefern, wo es die Redaktion versäumte. Dieses Engagement der Nutzer würde nicht durch die Macher anerkannt. Sie beschreibt es zudem als alarmierend, dass beispielsweise die Behauptung, Sophie Scholl habe nichts von dem Mord an den Juden gewusst, vom Community-Management weder kommentiert noch eingeordnet wurde. Die Redaktion schaltete sich, wenn überhaupt, erst nach zahlreichen Hinweisen ein. Hesper stellte auch fest, dass das Community-Management positive Kommentare eher verstärkte und bei Kritik oder historischen Falschaussagen eher zurückhaltender reagierte.
Das Opfernarrativ der Deutschen
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass das Projekt durch den Fokus auf Sophie Scholl ein Bild von den Deutschen als Opfer des NS-Regimes zeichnet, das so nicht der Realität entspreche. Die meisten Menschen waren damals Mitläufer oder Sympathisanten im NS-Regime. Dennoch gehen ungefähr 35 Prozent der Deutschen heute davon aus, dass ihre Vorfahren unter den Opfern des Nationalsozialismus gewesen seien. Etwa 32 Prozent denken, dass ihre Vorfahren potenziellen Opfern geholfen hätten. Das zeigte die MEMO-Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung aus dem Jahr 2020.
Im Instagram-Kanal über Sophie Scholl, so Böhmermann, habe der Opferkult ein neues Zuhause gefunden. Auf PRO-Nachfrage dazu betonten die Macher des Projekts abermals, dass es sich um „eine fiktive Interpretation einer historischen Figur“ handle. Die Zuspitzung der Schreckensherrschaft des NS-Regimes sei dabei dennoch für die Zuschauer erkennbar gewesen. „Unser Format wollte keine Belehrung betreiben“, erklärt die Redaktion, „sondern eine junge Zielgruppe für Zeitgeschichte interessieren und das haben wir über einen Zeitraum von zehn Monaten erfolgreich erreichen können.“
Glaube als Motivation für den Widerstand
Der Theologe Robert M. Zoske veröffentlichte Biografien über Sophie Scholl wie auch ihren Bruder Hans. Er setzte sich auch sehr intensiv mit ihrem Engagement in der „Weißen Rose“ auseinander. In einem PRO-Interview wies er vor allem auf den christlichen Glauben hin, der Sophie und auch ihren Bruder zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten ermutigt habe. „Sophie kämpfte mit Gott gegen Hitler“, sagt er auf Nachfrage.
Zoske verfolgte das Projekt „aus fachlichem Interesse“, wie er bemerkt. Sein Gesamteindruck: „sehr gemischt“. Er freue sich sehr über das große Interesse an Sophie Scholl, gleichzeitig sieht er „zahlreiche Mängel in der inhaltlichen Umsetzung“. Das Projekt gehe „deutlich in Richtung Oberflächlichkeit“, obwohl man nach heutiger Kenntnis der Originalquellen auch ohne Fiktion ein sehr lebhaftes Bild der Charaktere und deren Beweggründe hätte zeigen können.
Zoske beschreibt: „Entscheidendes wird unterbelichtet, weil es angeblich nicht passt, zum Beispiel ihre langjährige Begeisterung für Hitler und ihre tiefe Religiosität. Bei Instagram folgt auf Fakt Fiktion und Fake.“ Dem Follower falle es dann schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Zweifelhafte Geschichten
Der Glaube von Sophie Scholl kommt in den Posts hin und wieder vor. Sie erzählt von ihren Gebeten und davon, wie sie mit Gott ringt. Dass dieser Glaube noch weiter als das ging, erklärt Robert Zoske: „Für Sophie Scholl war der christliche Glaube sehr wichtig. Ohne dieses Vertrauen hätte sie nicht widerstanden.“ Auch bei ihrer Verurteilung und Hinrichtung hielt Sophie Scholl weiterhin an Jesus fest.
Zoske berichtet von zeitnahen Quellen, die belegen, dass Sophie und Hans vor ihrer Hinrichtung das evangelische Abendmahl, Christoph Probst (ein Mitglied der Weißen Rose) die katholische Eucharistie empfingen. Im Projekt wird am 22. Februar, ihrem Todestag, davon nicht berichtet. Zoske sagt dazu: „Auf Instagram entscheidet man sich dafür, eine höchst zweifelhafte Geschichte zu erzählen, die erst Jahre nach dem Krieg vom Gefängnispersonal kolportiert wurde.“ In dieser Anekdote werde erzählt, dass die Gefängniswärter, obwohl es verboten war, den Geschwistern und Christoph Probst eine letzte Zigarette spendiert hätten.
Dass diese Geschichte anstelle der historisch besser belegten auf Instagram erzählt wird, erklärt Zoske damit, dass man hier nicht an den Empfindungen der historischen Sophie interessiert gewesen sei, denn für Sophie war das Abendmahl nachweislich Trost und Kraft. Damit bediene die Redaktion, so Zoske weiter, die vermuteten Gefühle der Follower mit einer trivialisierten, säkularisierten Form des letzten Abendmahls ohne Bezug zum Glauben.
Auf PRO-Nachfrage bei der Redaktion des Projekts, warum sie sich dafür entschieden haben, den Glauben als Motivation für den Widerstand der Scholls weniger zu thematisieren, verweist diese lediglich darauf, dass der Glaube an anderen Stellen auftauchen würde. Auch lade Sophie die Nutzer einige Male zum Austausch über den Glauben ein.
Seit dem letzten „persönlichen“ Post von Sophie Scholl am Tag ihrer Festnahme, dem 18. Februar, wurde der Kanal mit weiteren Informationen im Dokumentarstil zur Hinrichtung von Sophie Scholl und anderen Mitgliedern der „Weißen Rose“ bespielt. Ein kurzer Making-of-Film wurde auch veröffentlicht. Laut den Machern werden die gesammelten Inhalte noch fünf Jahre online zu sehen sein. Weitere Projekte in der Art seien in Planung. Welche Person als nächstes porträtiert werden soll, ist noch nicht bekannt.
Eine Antwort
Eine gute Bestandsaufnahme, die die verpassten Chancen aufzeigt. Gerade aktuell wäre doch wichtig zu erfahren, wie die begeisterten „Hitlerfans“, die der Nazipropaganda ins Netz gingen – wie heute diejenigen, die den Falschmeldungen der Putin-Clique glauben – zu mutigen Widerstandskämpfern wurden. Da war ja Sophie Scholl nicht die Einzige. Auch Paul Schneider und andere haben erst nach einiger Zeit umgeschwenkt. Das aufzuarbeiten würde heute helfen, den „Putinverstehern“ die Augen zu öffnen.