In seiner Stellungnahme „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ mahnt der Deutsche Ethikrat, dass es beim politischen Krisenmanagement bereits jetzt darum gehen müsse, wie die Gesellschaft einen Weg zurück in einigermaßen normale Abläufe des öffentlichen und privaten Lebens finden könne. Um die Maßnahmen des sogenannten Lockdowns, also des Herunterfahrens des öffentlichen Lebens, zu rechtfertigen, müsse immer abgewogen werden: zwischen dem erhofften Nutzen der ausgegebenen Kontaktsperren einerseits und den befürchteten Schäden für das politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Geschehen. „Auch der gebotene Schutz menschlichen Lebens gilt nicht absolut. Ihm dürfen nicht alle anderen Freiheits- und Partizipationsrechte sowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte bedingungslos nach- bzw. untergeordnet werden“, heißt es in der Ad-hoc-Stellungnahme. „Ein allgemeines Lebensrisiko ist von jedem zu akzeptieren.“
Das ethische Dilemma der aktuellen Krise bestehe darin, dass das Gesundheitssystem leistungsfähig und stabil gehalten werden und gleichzeitig negative Nebenfolgen für die Gesellschaft und die Bevölkerung aufgefangen werden müssten. Auf befristete Zeit seien Einschränkungen der Freiheitsrechte daher hinnehmbar. Doch je länger, desto schwerwiegender seien die sozialen und politischen Folgelasten. Der Ethikrat betont, dass die dafür notwendigen Entscheidungen nicht allein nach wissenschaftlichen Kriterien getroffen werden dürften. Es widerspreche „dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, würden politische Entscheidungen umfassend an die Wissenschaft delegiert“. Die Krise betreffe die ganze Gesellschaft, deshalb müssten die verschiedenen politischen Organe und vielfältige gesellschaftliche und wissenschaftliche Stimmen zusammenwirken, um die Krise zu bewältigen. Sie sei nicht die „Stunde der Exekutive“, sondern „der demokratisch legitimierten Politik“.
Staat muss „Öffnungsperspektive“ bieten
Der Ethikrat warnte vor allem vor den Folgen in drei Bereichen: In sozialpsychologischer Hinsicht drohten durch die Kontaktbeschränkungen Vereinsamung und häusliche Gewalt. Auch Menschen, die auf bestimmte Therapien oder Freizeit- und Betreuungsangebote angewiesen seien – etwa in der Kinder- und Jugendhilfe oder Menschen mit Behinderung –, würden durch die Maßnahmen besonders getroffen. Auch die ökonomischen Folgen müssten berücksichtigt werden: Es brauche mittelfristig eine funktionierende Marktwirtschaft, um die Krise zu bewältigen. Ein Zusammenbruch der gesamten Marktwirtschaft stehe zu befürchten, wenn zu viele große und kleine Unternehmen Insolvenz anmeldeten. Daher sei es notwendig, Insolvenzen nicht nur zu verhindern, sondern auch das operative Geschäft und den Konsumkreislauf wieder zu ermöglichen. Eine weltweite Rezession, geringere Wirtschaftsleistung und höhere Belastung der öffentlichen Haushalte „haben Auswirkungen auf existenzielle Funktionsbedingungen eines Gemeinwesens, dessen sozialstaatliche Solidarität auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit angewiesen ist“.
Mit Blick auf die politische Lage mahnt der Ethikrat, nicht in ein Denken in „Kategorien des Ausnahmezustands“ zu verfallen. Auf längere Sicht sei es für die demokratische Kultur problematisch, in einem Zustand zu verharren, in dem Grundrechte außer Kraft gesetzt sind. Es sei wichtig, dass der Staat „Öffnungsperspektiven“ biete, also den Bürgern erkläre, warum und wie lang bestimmte Einschränkungen erlassen werden und wie der Weg zurück zur Normalität aussehen kann. Wenn die Menschen eine zeitliche Frist für die Maßnahmen absehen könnten, steige ihre Akzeptanz für die gegenwärtige Situation. Sei ein solcher Horizont nicht in Sicht, führe das auf Dauer zu Entsolidarisierung und Demotivation.
Staat darf menschliches Leben nicht bewerten
Der Ethikrat äußerte sich auch zu möglichen ethisch-medizinischen Dilemmata der Coronakrise. Mediziner könnten vor der Frage stehen, ob sie wegen mangelnder Kapazitäten manchen Patienten die Behandlung verweigern, um anderen das Leben zu retten – einer sogenannten Triage. Dazu stellte der Ethikrat klar: „Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten, und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation vorrangig zu retten ist.“ Diese Entscheidung müssten Mediziner treffen.
Der Ethikrat unterscheidet zwei Szenarien: Wenn es weniger freie Plätze mit Beatmungsgeräten gibt und Ärzte die zu behandelnden Patienten auswählen müssen, könne bei dem Abgewiesenen nicht von einer Tötung durch Unterlassung gesprochen werden. In dem Fall hätte der Arzt das krankheitsbedingte Sterben nicht verhindert. Schwieriger ist es aus Sicht des Ethikrates, wenn alle Behandlungsplätze bereits belegt sind. Eine lebenserhaltende Maßnahme für einen Patienten beenden, um das Leben eines anderen zu retten, sei nicht rechtens. Der Mediziner könne zwar mit der „entschuldigenden Nachsicht der Rechtsordnung“ rechnen. Aber der Staat müsse deren Fundamente sichern.
Der Deutsche Ethikrat hat die Stellungnahme am Freitag veröffentlicht. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckte Auszüge daraus am Montag ab.
Von: Jonathan Steinert