PRO: Herr Mai, in Ihrem aktuellen Buch „Der kurze Sommer der Freiheit“ schildern Sie Schicksale junger Menschen, die sich nach dem 2. Weltkrieg in der sowjetisch besetzten Zone nach Freiheit und Demokratie sehnten. Warum ist das zum Verständnis des Volksaufstandes am 17. Juni 1953 in der DDR wichtig?
Klaus-Rüdiger Mai: Man wird die Ereignisse vom 17. Juni nicht verstehen, wenn man nicht begreift, wie die Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone und mit Gründung der DDR errichtet wurde. Was ich erreichen möchte, ist, dass diesen mutigen, jungen Menschen, die für Demokratie und Freiheit kämpften und dafür einen hohen Preis bezahlten, dass den Opfern, die in Vergessenheit geraten sollten, ihre Geschichte, ihre Würde wiedergegeben wird und sie in unserer Erinnerung eine Heimat finden, dass sie mit ihren Taten ihre Geschichte in unserem Gedächtnis bestimmen – und nicht ihre Schergen. Es muss ein Gedächtnis sein.
Aber ich möchte auch, dass eine Sensibilität dafür entsteht, wann und wie Diktatur entsteht – und dass Freiheit und Demokratie nicht nur Floskeln sind.
Der Widerstand gegen die Nazis – etwa durch die Geschwister Scholl – ist in unserem kollektiven Gedächtnis viel stärker verankert als der Widerstand gegen das SED-Regime. Woran könnte das liegen?
Es liegt vor allem daran, dass in weiten Teilen des linksliberalen Establishment Westdeutschlands eine Verharmlosung der SED-Diktatur schon aus dem Grund vorgenommen wird, weil man das eigene geschichtspolitische Erbe bereinigen will. Vergessen Sie nicht, dass für das juste milieu der Bundesrepublik die deutsche Frage nicht mehr offen war, und für viele von ihnen die deutsche Wiedervereinigung ein Super-Gau, gar eine narzisstische Kränkung darstellte, was einige von ihnen nicht daran hinderte, Vorteile aus der Wiedervereinigung zu ziehen.
Bei den Montagsdemonstrationen und der friedlichen Revolution vom 9. November 1989 haben die Kirchen eine Rolle gespielt. Wie war das im Vorfeld zum 17. Juni 1953?
Theologiestudenten wie Werner Ihmels, der in der Haft in Bautzen verstarb, versuchten christliche Jugendarbeit zu leisten. Christliches und liberales Engagement war, was die SED am meisten fürchtete und sie daher am härtesten verfolgte. Neben Stalin durfte es keinen anderen Gott geben. Wer das Paradies auf Erden errichten will, der errichtet nur die Hölle auf Erden. Die Freiheit benötigt die Transzendenz. So könnte man das berühmte Böckernförde-Diktum auch übersetzen.
Welche Rolle spielten nach Ihrer Einschätzung die Medien – Radio und Fernsehen West wie Ost – beim gescheiterten Aufstand 1953 und der geglückten friedlichen Revolution von 1989?
Die SED hatte gern davon gesprochen, dass der Rundfunk im amerikanischen Sektor
(RIAS) die Arbeiter aufgehetzt habe. Aber sowohl 1953 als auch 1989 hätten die West-Medien senden können, was sie wollen, wenn die Bürger mit der Diktatur zufrieden gewesen wären, wenn die sozialistische Kommandowirtschaft funktioniert hätte, wäre es zu keinem Aufstand, zu keiner Revolution gekommen. Der Anteil der Medien wird überschätzt.
Eine Umfrage der „Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur“ offenbart, dass nur jeder siebte Befragte im Alter zwischen 14 und 29 mit dem Datum 17. Juni etwas anfangen kann. Das Wissen über den einstigen Nationalfeiertag der BRD ist also lückenhaft. Was gehört aus Ihrer Sicht zum „Grund-Wissen 17. Juni“?
Es darf nicht vergessen werden, dass die DDR eine totalitäre Diktatur war und diese Diktatur nur in der sowjetischen Besatzungszone unter dem Schutz der sowjetischen Panzer und des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes, nur mit den Mitteln der Lüge, des Betrugs, der Gewalt und des Terrors durchgesetzt werden konnte. Die sowjetischen Panzer standen am Anfang der DDR, sie haben ihre Existenz durch brutale Gewalt am 17. Juni 1953 gesichert und als die Panzer nicht mehr fuhren, in den Kasernen blieben, im Jahr 1989 war die DDR am Ende.
Am 17. Juni 1953 begann mit einem Streik der Arbeiter der Volksaufstand, der bald schon das ganze Land erfasst hatte. Die Sowjets setzten 36 Divisionen zur Niederschlagung des Aufstandes ein, die SED übte grausame Rache: Verhaftungen, Todesstrafen und langjährige Haft waren die Folgen.
Was muss aus Ihrer Sicht noch genauer von der Forschung zum 17. Juni beleuchtet werden?
Schwere Frage, denn es ist schon sehr viel geschehen. Hubertus Knabe hat vor kurzem ein vorzügliches Buch zum 17. Juni vorgelegt. Ich würde es deshalb bescheidener formulieren, wir müssen auf dem Weg bleiben, viel mehr noch die einzelnen Biographien erforschen und sie noch stärker in den historischen Prozess einbinden, um zu verstehen, wie Diktatur wird – und Diktatur beginnt nicht mit der Frage: Wollt ihr die Diktatur? Häufig begann sie mit der Frage: Wollt ihr die Demokratie verteidigen?
Die Fragen wurden schriftlich beantwortet.
Klaus-Rüdiger Mai: „Der kurze Sommer der Freiheit: Wie aus der DDR eine Diktatur wurde“, Herder Verlag, 320 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3451394638