„Es braucht Aufklärung über Alternativen zum assistierten Suizid“

Zwei große Lebensschutz-Themen haben den derzeitigen Bundestag beschäftigt und auch der nächste wird damit zu tun haben: Sterbehilfe und Abtreibungen. Die Medizinethikerin Judith Khoury erklärt, was ihr für die weitere Debatte darüber wichtig ist.
Von Jonathan Steinert
Judith Khoury, Arbeitsgemeinschaft christlicher Mediziner

PRO: Der Bundestag hat in dieser Wahlperiode versucht, die Sterbehilfe gesetzlich neu zu regeln. Aber keiner der vorgelegten Gesetzentwürfe bekam eine Mehrheit. Mit dem Thema wird sich der nächste Bundestag wieder beschäftigen müssen. In welche Richtung sollte es aus Ihrer Sicht gehen?

Judith Khoury: Wir plädieren als Arbeitsgemeinschaft christlicher Mediziner sehr dafür, dass wir in Deutschland keine Infrastruktur aufbauen, wo es einfacher ist, sich mit Hilfe Dritter das Leben zu nehmen, als psychiatrische oder psychotherapeutische Begleitung zu bekommen. Ein oder besser zwei Personen mit psychologisch-psychiatrischer Kompetenz müssen aus unserer Sicht unabhängig voneinander feststellen, dass eine Person in freier Verantwortung den Wunsch hat, sich das Leben zu nehmen. Diese Personen dürfen dann nicht an der Durchführung des assistieren Suizids beteiligt werden.

Zuvor muss der Betreffende über Alternativen aufgeklärt werden, also über psychotherapeutische oder palliativmedizinische Behandlung. Erste Studien dazu zeigen, dass der Suizidwillige in vielen Fällen vor der Durchführung des assistierten Suizids nicht mit einem Palliativmediziner oder einem Psychiater gesprochen hat. Deswegen braucht es auf jeden Fall eine Regelung für den assistierten Suizid. Wir treten auch dafür ein, dass es eine Wartefrist von sechs Monaten gibt und dass in dieser Zeit der Suizidwunsch mindestens dreimal geäußert und dokumentiert werden muss.

Eine gewisse Hürde muss es unseres Erachtens geben, damit festgestellt werden kann, das ist jetzt wirklich ein definitiver, fest entschlossener Wunsch, diesen Suizid durchzuführen. Dankbar sind wir dafür, dass das Parlament einem Entschließungsantrag zugestimmt hat, um die Suizidprävention auszuweiten. Einen Entwurf für ein Gesetz dazu hat das Kabinett im November verabschiedet, jetzt durchläuft er hoffentlich auch in der nächsten Wahlperiode das Gesetzgebungsverfahren.

Die Themen auf ihrem politischen Weg

Zwei große Lebenschutz-Themen wollte der Bundestag in dieser Legislaturperiode klären: die Regelung des assistierten Suizids und eine liberalere Handhabe von Abtreibungen. Beide Debatten haben die 2021 gewählten Abgeordneten vom vorherigen Parlament geerbt. Eine davon geben sie ungelöst an ihre Nachfolger weiter, aber auch die andere dürfte früher oder später wieder hochkochen. Ein Überblick:

Assistierter Suizid

  • 2020 erklärt das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe für nichtig und betonte das Recht auf selbstbestimmtes Sterben.
  • Juni 2022: erste Debatte im Plenum über drei verschiedene, jeweils fraktionsübergreifende Gesetzesentwürfe – zwei eher liberale, einer eher restriktiv mit einem Fokus auf Schutzkonzept und Prävention; die beiden liberaleren Entwürfe werden später zu einem zusammengeführt
  • Juli 2023: Beide zur Abstimmung stehenden Entwürfe finden keine Mehrheit, es gibt weiterhin keine Regelung für assistierten Suizid.
  • April 2024: Die Unterstützer beider Entwürfe streben eine neue Abstimmung in der laufenden Legislatur an, ein dritter Entwurf kommt hinzu, doch abgestimmt wird nicht mehr darüber.
  • November 2024: Das Bundeskabinett verabschiedet einen Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Karl Lauterbach zur Prävention von Suiziden, zur Abstimmung im Bundestag kommt es vor der Wahl nicht mehr.

Abtreibung

  • 2022 schafft die Ampel-Koalition das Werbeverbot für Abtreibungen ab (§ 219a StGB). Die Debatte darüber gab es bereits in der vorhergehenden Großen Koalition, die den Paragrafen daraufhin um einen Absatz ergänzte und definierte, in welchem Rahmen Ärzte über Abtreibungen informieren dürfen.
  • April 2024: Eine Kommission empfiehlt die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen bis zur 22. Woche und damit die Abschaffung von § 218 StGB.
  • Juli 2024: Der Bundestag beschließt ein Gesetz, das „Gehsteigbelästigung“ vor Kliniken und Beratungsstellen für Abtreibungen verbietet.
  • Dezember 2024: Eine fraktionsübergreifende Gruppe von Parlamentariern legt einen Gesetzesentwurf vor, der Abtreibungen bis zur 12. Schwangerschaftswoche legalisieren soll.
  • Februar 2025: Einen Tag vor der letzten Sitzung des Bundestages berät der Rechtsausschuss über den Gesetzesentwurf, verweist ihn aber nicht zur Abstimmung an das Parlament. So bleibt die aktuelle Regelung vorerst bestehen.

Beim Thema Sterbehilfe spielt auch eine Rolle, was gesellschaftlich akzeptiert ist. Wie nehmen Sie das wahr?

Gesellschaftlich merken wir sehr stark, dass ganz wenig Aufklärung darüber besteht, was eigentlich assistierter Suizid meint. Viele verwechseln das, genauso wie auch einige Bundestagsabgeordnete, mit dem Ende lebenserhaltender Maßnahmen. Aber das ist etwas komplett anderes. Lebenserhaltende Maßnahmen zu beenden, bedeutet, eine Therapie zu beenden, die nicht mehr zielführend ist, weil ein Mensch nicht selbst ohne die Maschinen weiterleben könnte. Ein assistierter Suizid ist das bewusste Einleiten des Todes durch den Suizidenten selbst, dem ein Dritter zum Beispiel ein todbringendes Medikament bereitstellt. Bei der aktiven Sterbehilfe würde ein Mediziner oder Sterbehelfer den Tod herbeiführen – das ist in Deutschland noch verboten. Aber darüber wird wahrscheinlich bald noch diskutiert, wenn der assistierte Suizid erst einmal geregelt ist.

Für den Laien sind diese Unterschiede oft nicht so klar, dabei sind sie enorm wichtig. Denn es geht um die Absicht: Leitet etwa ein Arzt oder der Suizidwillige den Tod ein oder hat der Sterbeprozess im Körper bereits begonnen und wird nur künstlich aufgehalten? Dabei hat man es ethisch gesehen mit sehr verschiedenen Ausgangssituationen zu tun. Aufklärung braucht es auch darüber, dass Palliativ- und Schmerzmedizin unglaublich viele Angebote haben. Das nimmt Menschen die Angst. Sehr kritisch finde ich es, wenn Sterbehilfe als Weg angesehen wird, die Überalterung der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Das ist mir tatsächlich begegnet und das finde ich eine extrem unmenschliche, unchristliche und gefährliche Haltung, weil wir dann dahin kommen, dass wir Menschen unter Druck setzen, sich das Leben zu nehmen, bevor sie jemandem zur Last fallen.

Wie reagieren Sie, wenn jemand so etwas sagt?

In dem Fall war es ein privates Gespräch. Ich habe versucht, den Gedanken auf die eigene Familie zu übertragen: „Würdest du deiner eigenen Oma sagen: ‚So, liebe Oma, du bist jetzt 80, wie wäre es, wenn du dich verabschiedest?‘“ Da musste mein Gegenüber erstmal schlucken und sich dann revidieren. Aber allein, dass jemand so etwas äußert, zeigt ja, dass Menschen solche Gedanken hegen. Durch die moderne Medizin haben wir es geschafft, dass Menschen sehr alt werden können. Gleichzeitig ist es natürlich auch ein Problem, weil oft Schmerzen und Krankheiten damit einhergehen. Deswegen bin ich sehr stark dafür, dass wir mehr aufklären darüber, was ist eine Patientenverfügung, eine Vorsorgevollmacht; dass wir uns mehr Gedanken darüber machen, wie wir alt werden und in welchen Fällen wir wiederbelebt werden möchten. Das ist in der Gesellschaft noch viel zu wenig Thema und auch in den christlichen Gemeinden wird darüber noch zu wenig gesprochen.

Ein weiteres medizinethisches Thema, das die Politik in dieser Wahlperiode bis zum letzten Tag beschäftigt hat, ist die Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen. Dabei geht es im Grunde auch um diesen Grundkonflikt zwischen der persönlichen Selbstbestimmung – in dem Fall der Frau – und dem Schutz des Lebens. Wie kann man das ausbalancieren?

Ich halte die aktuelle Regelung, die wir haben, für einen sehr guten Kompromiss und Balanceakt zwischen diesen beiden Polen – wenn er in der Beratungspraxis richtig angewandt wird. Auch wenn ich es ethisch in keinem Fall befürworte, dass Schwangerschaftsabbruch eine legitime Option sein kann, leben wir in einem Land, in dem die christliche Sichtweise nur eine von vielen ist. Deswegen bin ich eigentlich von Paragraf 218 sehr überzeugt. Er schützt das ungeborene Leben dadurch, dass es im Strafgesetzbuch geregelt wird, wir haben die Beratungspflicht und eine Wartefrist von drei Tagen – das sind mehrere Hürden, die dem ungeborenen Leben die Chance geben, doch noch einen Schutz zu erfahren. Gleichzeitig gibt die Regelung einer Schwangeren, die das Kind auf keinen Fall will, die Möglichkeit zu einem straffreien Abbruch, sie wird eben nicht kriminalisiert.

Was haben Sie gedacht, als es kurz vor der Wahl noch einen Versuch gab, den Paragraf 218 zu streichen?

Direkt vor den Bundestagswahlen so ein gesellschaftlich umstrittenes und polarisierendes Thema noch anzupacken, empfand ich als ethisch falsch. Dadurch schafft man eine ähnliche Situation wie in den USA, wo man die Gesellschaft emotional so aufwiegelt, dass am Ende viele sachliche Aspekte unter den Tisch fallen. Ich hätte mir gewünscht, dass in der letzten Zeit vor den Neuwahlen Themen angegangen werden, wo es keinen Fraktionszwang gibt, zum Beispiel eben die Neuregelung des assistierten Suizids. Dass es dazu nicht kam und wir weiterhin keine Regelung haben, obwohl das sehr dringend ist, um Leben zu schützen, hat uns sehr geschmerzt.

Fürchten Sie, dass es in Deutschland auch zu so einer starken Polarisierung anhand des Abtreibungs-Themas kommt wie in den USA? Dort hat das sehr viel Mobilisierungspotenzial.

Im Vergleich zu Amerika haben wir den Vorteil, dass wir nicht nur zwei Parteien im Bundestag haben. Deswegen glaube ich, dass die Polarisierung nicht so stark werden wird wie in Amerika. Ich befürchte trotzdem, dass gewisse rechtsradikale Strömungen sich genau auf dieses Thema setzen werden und damit die Christen anziehen möchten. Wenn nur noch eine rechtsradikale Partei sich für den Schutz des ungeborenen Lebens einsetzen würde, wäre das in meinen Augen sehr bedrohlich für unseren Staat. Wobei ich mir natürlich von Christen wünsche, dass sie ihre Wahlentscheidung nicht allein vom Thema Abtreibung abhängig machen. Das sollte schon eine Rolle spielen, aber es gibt auch noch viele andere Themen, die ebenfalls mit Menschenrechtsverletzungen zu tun haben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Was wollen die Parteien?

Sterbehilfe

CDU: Präventionsgesetz beschließen, Angebote der Hospiz- und Palliativversorgung ausbauen, Ablehnung aktiver Sterbehilfe; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

AfD: Ablehnung von „Töten auf Verlangen“; Palliative Möglichkeiten sind auszuschöpfen, es darf kein Druck auf Schwerkranke entstehen; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

Grüne: Suizidpräventionsgesetz beschließen; mehr Hilfe, niedrigschwelligen Zugang zu psychosozialen und therapeutischen Angeboten schaffen, Krisendienste ausbauen; keine konkrete Aussage zu assistiertem Suizid

FDP: betont Recht auf selbstbestimmtes Sterben; Sterbehilfe rechtssicher in Anspruch nehmen, zugleich Prävention „spürbar ausbauen“

Linke/SPD/BSW: kommt im Wahlprogramm nicht vor

 

Abtreibung

CDU: § 218 beibehalten

AfD: Ablehnung aller Bestrebungen, Abtreibung zu einem Menschenrecht zu machen; Wirksamkeit der verpflichtenden Beratung überprüfen und sicherstellen; Werbung für Abtreibung verbieten; werdende Mütter unterstützen

Grüne: Abtreibungen in der Frühphase legalisieren, in mittlerer Phase der Schwangerschaft gesetzlich regeln

SPD: Schwangerschaftsbbrüche außerhalb des Strafrechts regeln und zu einem Teil der medizinischen Grundversorgung machen

FDP: Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen erleichtern, Reform der aktuellen Regelung fraktionsübergreifend beraten

Linke: Schwangerschaftsabbruch als medizinischer Eingriff zur gesundheitlichen Versorgung, freiwillige Beratung, § 218 ersatzlos abschaffen

BSW: Selbstbestimmung über den eigenen Körper garantieren, Straffreiheit von Abtreibungen bis zur 12. Woche

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