Der Gendarmenmarkt im Herzen Berlins ist am Dienstagmorgen weiträumig abgesperrt. Wer dringend ins Büro oder die U-Bahn vor Ort möchte, muss einen Umweg in Kauf nehmen. Denn selten kommt soviel Politikprominenz an einem Ort zusammen, wie an diesem verregneten Oktobermorgen. Später wird sich der 19. Deutsche Bundestag konstituieren. Auf dem Tagesplan steht unter anderem die Wahl des Bundestagspräsidenten. Doch vor all dem kommen politische Freunde wie Gegner in der Französischen Friedrichstadtkirche zu einem ökumenischen Gottesdienst zusammen.
Aus den schwarzen Bundestagslimousinen steigen Bundeskanzelrin Angela Merkel (CDU), Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD), die Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles (SPD), Volker Kauder (CDU), Katrin Göring-Eckardt (Grüne) oder Alice Weidel (AfD). In der Kirche sitzen sie nebeneinander, und das, obwohl sie in der kommenden Legislaturperiode mehr trennen wird, als nur das Parteienkürzel. Die AfD kündigte bereits im Vorfeld des ersten Sitzungstages an, Wolfgang Schäubles (CDU) Wahl zum Bundestagspräsidenten nicht unterstützen zu wollen. Die Aufstellung des islamfeindlichen AfD-Kandidaten Albrecht Glaser für das Präsidium des Bundestages sorgte ebenfalls für Unmut. Die Debatte ist schon vor dem ersten Sitzungstag eröffnet.
Weggefährten statt Feinde
Doch vor den Streit haben die Berliner Büros der großen Kirchen die gemeinsame Einkehr gesetzt. Im traditionell vor Arbeitsbeginn neugewählter Bundestage stattfindenden Gottesdienst singen Petra Pau (Linke) und Peter Tauber (CDU) Seite an Seite: „Gott ist’s, der das Vermögen schafft, was Gutes zu vollbringen; er gibt uns Segen, Mut und Kraft und lässt das Werk gelingen.“ Unter den weißen Bögen der Friedrichstadtkirche lauschen sie dem Gleichnis vom Sämann aus dem Markusevangelium. Dieser Gottesdienst sei auch dazu da, Gott um seinen Beistand zu bitten, sagt der evangelische Prälat Martin Dutzmann und bittet um einen „Geist der Liebe, der im politischen Gegner nicht den Feind, sondern den Weggefährten sieht“.
Sein katholischer Kollege Karl Jüsten erinnert die Abgeordneten in seiner Predigt an deren Verantwortung vor dem Wähler. Schließlich verdankten sie vor allem ihm ihr Amt. Politiker müssten damit leben, nicht alles steuern zu können. Terroranschläge oder Migrationsbewegungen machten dies deutlich. Der Wähler aber dürfe erwarten, dass die Mitglieder des Bundestages demokratische Kultur lebten, fordert Jüsten und meint damit auch einen fairen Umgang miteinander. Letztendlich, so ist er sich sicher, habe der Beruf des Politikers viel mit dem des Pfarrers gemeinsam: Beide müssten Menschen erreichen, die Wahrheit sagen, dürften niemanden zu Schlechtem verführen, nicht mit den Ängsten der Menschen spielen und nicht auf den eigenen Vorteil aus sein.
Am Ende des Gottesdienstes darf jeder Abgeordnete seinem Nachbarn den Frieden Gottes wünschen: Katrin Göring-Eckardt soll Alice Weidel die Hand reichen, Weidel ihrerseits Andrea Nahles. Zum Abschluss erklingt Mendelssohn Bartholdy. Zurück im Berliner Nieselregen eilen die Abgeordneten zu ihren Limousinen und von dort in den Sitzungssaal des Reichstagsgebäudes. Die Debatte kann beginnen.
Von: Anna Lutz