Als sich die Chance seines Lebens bietet, da ist Dietrich Bonhoeffer gerade 33 Jahre alt. Eine Professorenstelle in den USA hat der junge Berliner Theologe in Aussicht. Doch von Freude keine Spur: Ziellos und fast verzweifelt läuft Bonhoeffer am Times Square in New York auf und ab – es ist das Jahr 1939, wenige Wochen, bevor Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesseln wird. In sein Tagebuch notiert Bonhoeffer: „Mir ist ganz deutlich, dass ich zurück muss“, und: „Wenn es jetzt unruhig wird, fahre ich bestimmt nach Deutschland. Ich kann nicht allein draußen sein. Ich lebe ja doch drüben.“
Am 20. Juni fällt die Entscheidung: Bonhoeffer zieht es zurück nach Deutschland, wo die Nationalsozialisten erbarmungslos Jagd auf Juden machen und auf Widerständler wie ihn. Seine Familie, seine Freunde will er nicht im Stich lassen. Bonhoeffer wird Wege einschlagen und Entscheidungen treffen, die er nach eigener Auskunft nie bereut hat. Knapp sechs Jahre hat er noch zu leben, als er am 24. Juli 1939 in Berlin ankommt.
Mann von Welt mit Herz für Bedürftige
Dietrich Bonhoeffer wurde am 4. Februar 1906 in Breslau geboren. Sein Vater ist der seinerzeit berühmte Psychiatrie-Professor und Neurologe Karl Bonhoeffer. Seine Mutter Paula erzieht ihre acht Kinder „christlich“, aber „nicht kirchlich“. Die Kinder wachsen in großbürgerlicher Umgebung in Berlin-Charlottenburg auf, zum erlesenen Freundeskreis zählen bekannte Wissenschaftlerfamilien. Regelmäßig wird im Hause Bonhoeffer musiziert, es gibt niveauvolle und leidenschaftliche politische Diskussionen.
Dietrich spielt talentiert Klavier und ist ein begeisterter Sportler. Obwohl die Familie nicht übermäßig „fromm“ ist, beschließt er schon als Kind, dass er Pfarrer werden will. Als Schüler und Theologiestudent entwickelt sich Dietrich Bonhoeffer zum Überflieger: Mit 21 Jahren schreibt er seine Doktorarbeit, mit 24 habilitiert er sich. Der Sohn aus gutbürgerlichem Haus entwickelt ein Herz für sozial Schwache: Bonhoeffer bewohnt eine Bude im Problemstadtteil Wedding. Dreck, Lärm und soziale Spannungen umgeben ihn dort, er kümmert sich um verwahrloste „Proletarier“-Jugendliche. Bonhoeffer lebt dort mitten unter Typen, wie sie der berühmte Berliner Maler Heinrich Zille in seinen „Milljöh“-Zeichnungen festgehalten hat.
Zugleich ist Bonhoeffer das, was man damals einen „Mann von Welt“ nennt: Er hat einen sicheren Geschmack, wählt seine Kleidung mit Sorgfalt, er ist vielseitig belesen, ein Gourmet und ein Globetrotter: Als junger Vikar arbeitet Bonhoeffer in Barcelona, später als Pfarrer mehrere Jahre in England. Er unternimmt ausgedehnte Studienreisen nach Italien oder Nordafrika. Vor allem zieht es ihn in die USA, von dort weiter nach Mexiko und nach Kuba. Und er hat Sehnsucht nach Stille, Enthaltsamkeit und Einkehr – zum Studieren und Meditieren sucht der Protestant das katholische Kloster Ettal in Bayern auf.
„Wir haben in der Kirche nur einen Altar, das ist der Altar des Höchsten“
Deutschland erlebt dramatische, schicksalhafte Zeiten. Während Millionen Männer und Frauen die Machtergreifung der Nazis unwidersprochen hinnehmen und sogar als Aufbruch empfinden, herrscht im Hause Bonhoeffer nüchterner Weitblick. Am Abend dieses denkwürdigen 30. Januar 1933, als SA-Verbände martialisch triumphierend im Fackelschein durchs Brandenburger Tor ziehen, stößt Bonhoeffers Schwager Rüdiger Schleicher zur Familie und kommentiert die politischen Ereignisse mit den Worten: „Das bedeutet Krieg.“
Als einer der wenigen evangelischen Theologen ist Bonhoeffer von Beginn an ein kompromissloser Nazi-Gegner. Zwei Tage nachdem Hitler erste Huldigungen der Massen entgegennimmt, nutzt Bonhoeffer die Chance einer Rundfunkansprache. Vor dem Live-Mikrofon äußert er sich kritisch zum „Führerbegriff“ – die Nazis reagieren sofort, schalten die Sendung ab. Und während in vielen Kirchen bereits die Hakenkreuzfahne über dem Altar prangt, ruft Bonhoeffer in seiner ersten Predigt nach der Machtergreifung in der Berliner Dreifaltigkeitskirche seiner Gemeinde zu: „Wir haben in der Kirche nur einen Altar, und das ist der Altar des Allerhöchsten.“ Von seiner Kanzel aus werde nur „vom Glauben an Gott geredet und sonst von keinem Glauben“. Auch die rassistische Ausrichtung der NS-Ideologie greift Bonhoeffer bald nach der Machtergreifung auf: In seinem Aufsatz „Die Kirche und die Judenfrage“ tritt er „für das Lebensrecht der gesamten jüdischen Bevölkerung“ ein.
Charakterstärke, Mut und Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft zeichnen Bonhoeffer aus. Als Person, Kirchenmann und Christ ist er sperriger Denker und radikal konsequenter Tatmensch zugleich. Seit Ende der 1960er Jahre ist Bonhoeffer fast zum protestantischen Helden avanciert: Nach den Worten des früheren Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und Bonhoeffer-Forschers, Wolfgang Huber, ist Bonhoeffer „ein evangelischer Heiliger“. Wer Zeitzeugen befragt, bekommt ein differenzierteres Bild: „Er hatte überhaupt nichts Pastorales“, erinnerte sich sein Neffe, der spätere Bundesminister und ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD, heute 91), im Gespräch mit dem Autor. „Wenn ich an ihn denke“, so von Dohnanyi, „dann sind das immer diese gemeinsamen Stunden beim Skifahren, beim Tischtennisspielen und beim Musizieren. Er war kameradschaftlich, sportlich, lustig.“
Fasziniert von Gandhi
Schweren Herzens verzichtet Bonhoeffer 1935 auf eine lange geplante Indienreise – auf Einladung von Mahatma Gandhi. Erst 2018 entdeckte ein indischer Historiker in Neu-Delhi einen Originalbrief des damals 28-jährigen Bonhoeffer. Er bringt dort sein großes Interesse an Gandhis Weg des „gewaltlosen Widerstands“ zum Ausdruck. In dem Brief schreibt Bonhoeffer auch von seiner Sorge über einen nahenden Krieg in Europa. Er äußert die Überzeugung, Europa benötige dringend „eine wirklich geistlich geprägte und lebendige christliche Friedensbewegung“.
Statt Gandhi in dessen Ashram (Ort der religiösen Einkehr und Meditation) in Indien zu besuchen, baut Bonhoeffer nun einen eigenen auf: Für die Bekennende Kirche gründet er ein Predigerseminar in der pommerschen Weite in Finkenwalde. Ab 1938 reift bei Bonhoeffer mehr und mehr die Erkenntnis, dass er sich als Christ aktiv an der gewaltsamen Beseitigung Hitlers beteiligen muss. Sein Schwager Hans von Dohnanyi (1902–1945), Vater des Politikers Klaus von Dohnanyi, arbeitet in der konspirativen „Geschäftsstelle“ des Widerstands, die ihren Sitz im Wehrmachts-Geheimdienst „Abwehr“ bei Admiral Canaris hat. Dohnanyi schleust Bonhoeffer als V-Mann ein. Den Verschwörern gelingt es, 14 jüdische Familien außer Landes zu schmuggeln. Vor allem aber unternimmt Bonhoeffer mit fingierten Aufträgen Reisen nach Schweden, Norwegen und in die Schweiz.
Er versucht seine internationalen Kirchenkontakte zu nutzen, um Zugang zu den Alliierten zu bekommen. Doch die Türen bei den Kriegsgegnern bleiben verschlossen. Am 13. März 1943 – gut ein Jahr vor dem berühmten Stauffenberg-Attentat – scheitert der nach Ansicht des Publizisten Joachim Fest „aussichtsreichste“ Anschlagversuch auf Hitler – organisiert aus der Abwehr-Zentrale. Am 5. April wird Dohnanyi im Büro verhaftet. Bonhoeffer wird aus dem Haus seiner Eltern in der Marienburger Allee in Berlin-Charlottenburg abgeführt. Bis Oktober 1944 sitzt er im Gefängnis Tegel unter relativ erträglichen Bedingungen.
Hier schreibt Bonhoeffer Briefe, Gedichte, theologische Gedanken, oft auf Zettelfetzen. Wer diese später unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“ veröffentlichen Aufzeichnungen liest, erhält das facettenreiche Bild eines Mannes, der äußerlich unerschrocken, stolz und stark wirkt, sich selbst aber als ängstlich und wehleidig erlebt.
„Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“
Erst spät bekannt geworden sind Einzelheiten von Bonhoeffers Liebe zu der 18 Jahre jüngeren Maria von Wedemeyer (1924–1977), mit der er sich in der Haft verlobt. Bis zum misslungenen Stauffenberg-Attentat, am 20. Juli 1944, überwiegt die Hoffnung auf ein Überleben in Freiheit. Doch am Schluss muss Bonhoeffer den „Kelch, den bittern“, den er in seinem Gedicht „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ beschrieben hat, selbst bis zur Neige trinken. Diese weltberühmten Zeilen hat Bonhoeffer bereits im Angesicht der drohenden Hinrichtung geschrieben. Es ist sein letzter erhaltener theologischer Text, geschrieben kurz vor Weihnachten 1944 im Kellergefängnis der Gestapo in Berlin-Mitte. Aber wie immer, so auch in diesem letzten Brief an seine Verlobte Maria, äußert sich Bonhoeffer nicht klagend, anklagend oder verbittert, sondern positiv: „Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt.“
Ein Gefangenentransport im Fränkischen. Die Häftlinge hören Geschützdonner. Die vorrückende US-Armee ist schon ganz nah. Es ist Sonntag. Bonhoeffer wird gebeten, eine Andacht für die überwiegend katholischen Mitgefangenen zu halten. Er liest die Tageslosung, er spricht über Jesus Christus und den Gottesknecht, wie ihn schon der Prophet Jesaja beschrieben hat: „Durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Kapitel 53,5). Die Tür geht auf, ein Befehl: „Gefangener Bonhoeffer, fertigmachen und mitkommen.“ Im Weggehen sagt der 39-Jährige: „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.“ Morgengrauen, im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz. Nackt geht Bonhoeffer zum Galgen, „mutig und gefasst“, wie ein Zeuge beschreibt. Es ist der 9. April 1945, vier Wochen vor Kriegsende. Der Lagerarzt berichtet zehn Jahre später, nie in fast 50 Berufsjahren habe er einen Menschen „so gottergeben sterben sehen“.
Was von Bonhoffer blieb
-
Nach dem Zweiten Weltkrieg galt er vielen als „Vaterlandsverräter“ – auch in der eigenen Kirche. Seine Texte aus der Haft wurden dennoch zum Weltbestseller.
-
Hunderte Straßen, Schulen und Kirchen sind heute nach Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) benannt. Doch selbstverständlich war dies lange Zeit nicht.
-
Bonhoeffers eigene Kirche, die Berlin-Brandenburgische, wollte von dem Abtrünnigen lange nichts wissen. Sein Name wurde verschwiegen. 1945, zum Jahrestag des Attentats vom 20. Juli, hieß es offiziell von den Kanzeln, die Kirche könne den Anschlag „niemals gutheißen“. Während die Anglikanische Kirche Bonhoeffer in England Denkmäler setzte, galt er vielen in Deutschland bis in die 50er Jahre hinein als „Vaterlandsverräter“. In Bielefeld protestierten evangelische Pfarrer gegen Straßenbenennungen nach Bonhoeffer. 1956 qualifizierte der Bundesgerichtshof das SS-Standgericht, das Bonhoeffer 1945 zum Tode verurteilt hatte, als ein ordnungsgemäßes Gericht. Mitglieder der Familie, die neben Dietrich Bonhoeffer auch dessen Bruder Klaus sowie die Schwäger Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleicher durch die Nazis verloren hatten, wurden nicht entschädigt. Erst 1998 wurden die Gerichtsurteile der NS-Justiz formal aufgehoben. Bonhoeffer selbst hatte wie etliche andere christliche Widerständler sehr mit seiner Entscheidung gerungen, aktiv und notfalls gewaltsam an der Beseitigung Adolf Hitlers mitzuwirken: Er sah sich nicht als „unschuldig“, sondern nahm seinen Tod und auch eine mögliche Verdammnis im himmlischen Gericht aus Gottes Hand: „Wer das Schwert nimmt, kann (wird) durch das Schwert umkommen.“ (Matthäus 26,52).
-
Dass Bonhoeffer seit den 1960er Jahren zum meistgelesenen evangelischen Theologen unserer Zeit wurde, hat er seinem Schüler und Freund Eberhard Bethge zu verdanken: „Widerstand und Ergebung“ heißt der Weltbestseller, den Bethge aus gesammelten Briefen, Gedichten und Gedanken zusammenstellte, die Bonhoeffer im Gefängnis auf Papierfetzen kritzelte und dann hinausschmuggeln ließ. Vorher schon, aber vor allem in der Haft schrieb Bonhoeffer neben Gedichten, Gebeten und Meditationen zahlreiche theologische Konzeptgedanken auf – oft innovativ und herausfordernd, aber vielfach unvollendet. Seine sehr unterschiedlichen Ansätze und Beiträge wurden je nach Standpunkt von konservativen Christen oder aber von sozialistisch orientierten Theologen oder Politikern und Philosophen unterschiedlicher Denkschulen aufgegriffen. Wer sich mit Bonhoeffers Theologie beschäftigt, wird jedoch feststellen: Der Mittelpunkt ist immer Jesus Christus.
-
Weltberühmt wurde Bonhoeffers Plädoyer für ein „religionsloses Christentum“. Moderner Glaube dürfe nicht jenseitig und abgehoben sein, schreibt Bonhoeffer. Gott begegne dem Menschen vielmehr in der „Diesseitigkeit des Lebens“. Deshalb rufe Jesus „nicht zu einer neuen Religion auf, sondern zum Leben“. An anderer Stelle entwickelte er die Vision einer zukünftigen Kirche ohne staatliche Privilegien an der Seite der Armen und Verfolgten. Während diese Vision in Deutschland und Mitteleuropa weithin unbeachtet blieb, ist sie in den Armuts- und Befreiungsbewegungen der Ökumene bis hinein in die katholische „Befreiungstheologie“ in Lateinamerika prägend eingegangen.
Gedicht: „Wer bin ich?“
Wer bin ich?
Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr
aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich,
was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das,
was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank,
wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem,
als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben,
nach Blumen,
nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten,
nach menschlicher Nähe …
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich beides zugleich?
Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst
ein wehleidiger Schwächling?
Wer ich auch bin, Du kennst mich,
Dein bin ich, o Gott!
Dietrich Bonhoeffer, Gefängnis Tegel, 1944 (Auszüge)